– 27.07. 2021 –

Im Affenwald

In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Melioration der bis anhin völlig versumpften Aare-Ebene zwischen Meiringen und Brienzersee. Die Korporationen verkauften in der Folge Land an private Bauern. Die frühere Bergwirtschaft wurde zur Landwirtschaft. Die neuen Besitzer konnten dem Plan der Behörden, auf dem teuren Land quer zum Tal ein Stück Wald als Windbrecher zu pflanzen, wenig Sinn abgewinnen und nannten das unerwünschte Gehölz fortan «Affenwald».

Eine düstere Wolkendecke schob sich ins Haslital und hüllte letzte, wärmende Strahlen ein. Sachte legte sich Finsternis auf die silbernen Fischleiber der Vampires. Nur der Wasserfall in der nahen Felswand hatte noch Dienst.

Mir war bange zumute, ich fühlte mich zerrissen. Weit abgehoben sass ich mir selbst im Nacken. Derjenige da unten konnte und wollte ich solange wie möglich nicht mehr sein: Nicht Der, welcher in dieser schalltoten Zelle mit aufgestütztem Kinn die Astaugen des Tischblatts anstierte und unter dessen Rasenmäherhaarschnitt Selbstvorwürfe Pingpong spielten. Wie konnte der auch. Um ein Haar hätte er sich umgebracht. Das kann, nein, das darf nicht sein!

Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, wollte weder hier in der anderen Gedankensphäre entdeckt werden, noch den Delinquenten unter mir stören. Er soll es selber aussitzen. Ich wollte mich nicht einmischen, liess ihn zappeln im hoffnungslosen Unterfangen, Feldgrau abzustreifen und den heutigen Tag mit Bildern aus besseren Zeiten anzureichern. Ich liess ihn im Dunkeln hocken, in der unheimlichen Stille, im Trübsal baden. Hätte er das Fenster geöffnet, wäre vielleicht das Gurgeln des nahen Bächleins zu ihm gedrungen, oder womöglich das zarte Rauschen des «Jungfernsprutz», wie Einheimische den dünn stiebenden Fall des Oltschibachs in der Wand drüben nannten. Doch er mochte nicht. Ich liess ihn so hocken bis mich ein Auto erschreckte, ein Volkswagen, zweifelsohne, der harsch auf dem Kiesplatz bremste. Jemand stolperte, fluchte, der Schlüssel der Eingangstür drehte sich. Schritte knarrten, fünf vielleicht, dann aufdringliches Klopfen, militärisch und doch nicht knochig hart. Noch während er aufstand, Licht andrehte, wurden er und ich wieder eins und die Tür öffnete sich.

«Alles in Ordnung?»
«Herr Leutnant, Korporal Walser!», schnarrte ich aus der Achtungstellung und meldete Ordnung.
«Ruhn. Alles geht vorüber, wünsche gute Nachtruhe!»
Der braune Handschuh grüsste lässig vom Hutschild, die Mundwinkel leicht hochgezogen, die weisse Dolchkordel verschwand baumelnd im Halbdunkel und es drehte sich der Schlüssel.

Fahrplanmässig, punkt elf Uhr fünfundzwanzig, fuhr vorgestern der Zug im Bahnhof von Brienz am Brienzersee ein. Ein VW-Bus schepperte mit uns dem Ballenberg, einem markant gefalteten Talriff, bestehend aus Dogger-Kalkstein der Wildhorndecke, entlang. Dieser einsame, verfluchte Heuschober fiel mir schon beim Kreuzen der Pistenachse auf. Wie vergessen stand er mitten im Anflug, dreissig Meter vor Beginn des Hartbelags, ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Die Kaserne, ein grauer, langgezogener Barackenkomplex, war Teil der Anlage am Kopf des Flugplatzes Unterbach bei Meiringen. Flugdienstleitung, Turm, Hangars, Standplätze sowie die Kantine, alles war zu Fuss erreichbar. Es war am Montag, dem 4. Juli 1960, als wir sechzehn Fliegerschüler Oberst Hans-Heinrich Bachmann und seinem Kader vorgestellt, in zwei Schulstaffeln aufgeteilt sowie über Örtlichkeiten und Ausbildungsprogramm orientiert wurden. Gleich hatte er uns wieder, der militärische Alltag, der einem ins Minutenkorsett zwang. Am Ende der kommenden vier Monate, so der Plan, sollten wir auf dem Typ De Havilland DH-112 Venom als Militärpiloten im Rang eines Wachtmeisters brevetiert werden. Verbandsflug und Waffeneinsatz standen im Vordergrund. Fliegen musste Sinn machen, musste den potenziellen Feind an seinem Nerv oder wie die Vampire in seiner Blutbahn treffen. Venom steht für tödliches Schlangengift.

Es blieb etwas mehr als ein Monat Urlaub, um uns zwischen den beiden Fliegerschulen zu erholen. Ich bat die Post, meine Arbeitgeberin, um unbezahlten Urlaub und verreiste mit Kamerad Erwin Hofer nach England. Eine viermotorige Swissair DC-6B flog uns nach London und British Railways rollte uns in die Grafschaft Devon. In Exeter besuchte Erwin seine Freundin, eine Ostschweizerin. Ich spielte fünftes Rad am Wagen, versuchte es zumindest, ging mit ihnen Kathedralen, Badestränden und Flugplätzen nach. Wir hatten eine gute Zeit miteinander und dennoch war ich froh, dass sie zu Ende ging. Sie sandte mir ein Briefchen, ich sandte ihr ein Briefchen, dann riss der Faden. Auf die nächsten vier Monate Pilotenschule hatte ich mich sehr gefreut – und jetzt das!

«Du bist das grösste Kamel, das je geboren wurde!», schmetterte ich mir einmal mehr um die Ohren, setzte mich wieder an den Tisch, der meinen Gefühlsausbruch ebenso widerspruchslos entgegennahm wie der ordonnanzgetretene Boden, die beiden Stühle, das doppelstöckige, nur unten bezogene Bett und die vier rohen, senkrecht getäferten Wände, auf die eine nackte 60-Watt-Birne ihre trostlose Lichtglocke warf. In meiner Lust- und Saftlosigkeit leerte ich die Effektentasche und legte deren Inhalt fein säuberlich vor mir aus: Pyjama, Waschzeug, Dienstreglement, Flugzeughandbuch, Fliegerkarte, Tagebuch und Füllhalter. Mehr durfte es nicht sein. Ich starrte in die Dunkelheit, mochte weder lesen noch schreiben, versuchte aufstossende Bitterkeit herunterzuschlucken und den Tag wiederzukäuen.

Nach bestandenem Checkflug auf dem De Havilland DH-115 Vampire-Trainer wurden wir für Soloflüge auf dem DH-100 freigegeben. Sich nach der Sommerpause wieder in die Eingeweide eines Jägers zu versenken, die Mischung aus Lack, Leder, Schweiss und Kerosin zu atmen, verursachte eine gewisse Beklommenheit. Um uns einzufliegen und dabei etwas Fluggewicht abzuspecken, sandte man uns nach dem Start auf einen kurzen Geographieflug ins Grimselgebiet. Es herrschte leichte Föhn-Wetterlage bei blauem Himmel und belanglosen Winden, als wir talaufwärts zu den ersten fünf Ziellandungen ansetzten. Das Gemenge von Ferienerlebnissen, wechselhaften Lüftchen und neuer Topographie machte selbst einfache Anflüge zu anspruchsvollen.

«Generell alle Landungen zu lang, das nächste Mal korrigieren!», kommentierte ein Fluglehrer die Arbeit unserer Gruppe, die als erste zum Tankstopp erschien. Ich schlüpfte wieder in den Vampire und setzte diesen Wunsch im nächsten Flug um, so konsequent, dass die Kühe verstoben. Die Leistung nahm ich früher als zuvor in den Leerlauf, verdrängte die Stimme, die mir «du bist zu tief, du bist zu tief» einflüsterte und schaufelte erst im letzten Moment Koks, aber dann umso mehr. Ich hatte klar übertrieben und die Schubkorrektur viel zu spät eingeleitet. Mit Maximalleistung und voll ausgefahrenen Widerständen donnerte ich zwischen fünf und zehn Metern über die Wiese, sah nach diesem Ritt auf der Rasierklinge den Heugaden auf mich zuschiessen, zog aus Angst vor einem Strömungsabriss spät, dafür aber mit sicherer Geschwindigkeit, worauf das Ziegeldach mit lautem Widerhall unter mir durchschoss. Die nächste Landung nach Durchstart und Zusatzvolte war perfekt. Doch, dann rieselte es mir kalt den Rücken hinunter.
«Tutti bambini riposo», zeterte der Oberst in den Äther. Alles landen! Das hiess nichts Gutes. Einen kolossalen Stein schleppte ich über die Schwelle des Klassenzimmers, das sich zusehends füllte. Wenn du jetzt Pech hast, Walser, dann fliegst du von dieser Akademie. Pech haben… fliegen… Akademie… Pech haben… fliegen… Schule… drehten sich in meiner Schädelnuss. Eine Stimmung, wie vor dem Weltuntergang. Obwohl ich mich duckte, schwebte ich splitternackt im Raum.

Bachmann trat ein, kreideweiss.
«Auf! Achtung… steht!», befahl Oberleutnant Fred Brennwald, im Zivilleben Testpilot der Kriegstechnischen Abteilung und aktuell Kommandant unserer Schulstaffel.
«Herr Oberst, ich melde ihnen die Fliegerschule 250/60!»
«Ruhn. Lassen Sie absitzen!», übernahm Bachmann das Zepter.
«Meine Herren! Mir ist völlig klar, dass Sie nach dem langen Unterbruch mit einem markanten Trainingsmangel zu kämpfen haben», begann er mit flackerndem Blick. «Man hat einfach vieles nicht mehr so im Griff, wie noch vor einigen Wochen. Was ich jedoch heute gesehen habe, befriedigt mich nicht, gar nicht!», und er schaute noch ernster in die Runde. Ein Vorfall sei sogar sehr gefährlich, deshalb absolut inakzeptabel gewesen, fuhr er fort. Mein Herz rutschte in die Hose, die Kehle schnürte sich zu.
«Korporal Walser, aufstehen!», schrie er mit einem Gesichtsausdruck, der mich völlig an die Wand warf.
«Was erlauben Sie sich? Sind Sie überhaupt noch bei Sinnen? Sind Sie lebensmüde geworden? Denken Sie eigentlich kein bisschen an ihre Eltern, an uns? Wollten Sie sich umbringen?!»

Den Rest bekam ich kaum mehr mit. Das war es also, das Scherbengericht, die letzte Stunde in der Fliegerschule. Offensichtlich hatte ich Bachmann einen schlimmen Schrecken eingejagt. Nur schon der Gedanke daran, den dritten Schüler innert weniger Monate durch Unfall zu verlieren, war für ihn zu viel.
«Sie sind hinter dem Heuschober verschwunden und wir haben nur noch auf die Explosion gewartet. Dann sind Sie heulend aufgetaucht und ihre Räder haben den Giebel um Haaresbreite, ja höchstens um einen Meter verfehlt!», keuchte er. «Oberleutnant Brennwald, verlesen Sie unseren Beschluss!» Der grossgewachsene, schlaksige Testpilot löste sich aus der Phalanx des zwölfköpfigen Schulstabs, stand betreten vor die Wandtafel und begann in breitem Zürichdeutsch. Ich verzog keine Miene, was immer auch kommen mochte.
«Korporal Walser, ich verurteile Sie wegen Unachtsamkeit im Flugdienst und Gefährdung von Mensch und Material zu drei Tagen einfachem Arrest. Beginn der Strafe ist unmittelbar nach dem Nachtessen.»
Arrest, hörte ich, nur Arrest. Ich war wie vom Schlag getroffen. Schmach und Demütigung frassen sich augenblicklich in meine Seele. Ausgerechnet ich, von den Kameraden oft als zackiger Militärkopf verschrien, soll eingelocht werden. Das war doch nur ein böser Traum. Erstaunlich schnell kehrten die Gedanken wieder in die Realität zurück. Arrest war zwar eine arge Erniedrigung, aber immer noch das viel kleinere Übel als entlassen zu werden oder gar tot zu sein. Und letztlich war die Strafe nicht wegen Diebstahl, Landesverrat oder einer Disziplinlosigkeit, sondern wegen eines fliegerischen Fehlverhaltens ausgesprochen worden. Der Betrieb ging weiter. Ich war zwar angeschlagen, versuchte mich aber dennoch so normal wie möglich zu verhalten.
Um halb acht fuhr mich Leutnant Stadler zum «Affenwald» und las mir auf dem Zimmer den Paragraphen aus dem Dienstreglement vor: «Der einfache Arrest ist namentlich bei Disziplinarfehlern am Platze, die nicht einer schlechten Einstellung entspringen. Der Bestrafte rückt beim einfachen Arrest zur Arbeit mit der Truppe aus …», was zu deutsch hiess, dass ich normal zum Flugdienst antreten würde. Darauf nahm er mir die Schnürsenkel ab.
«Bis morgen um halb sieben», verabschiedete er sich und schloss die Baracke von aussen ab.

Ich tigerte im Zimmer herum, setzte mich auf den Bettrand, schliesslich an den Tisch und versank in Einsilbigkeit. Eigentlich war ich wütend auf mich, weil ich nicht fähig gewesen war, den Winkelfehler früher zu erfassen und zeitig zu korrigieren. Ich ärgerte mich aber auch, dass man den Fall etwas anders darstellte, als ich ihn erlebt hatte. Ich begann mir alles nochmals präzis durch den Kopf gehen zu lassen, versuchte Lehren zu ziehen. Den Windwechsel auf mittleren Höhen, die versetzte Pistenschwelle und das schwache Ansprechverhalten des Triebwerkes hast du zu wenig und die Korrektur aus den vorherigen Landungen zu stark integriert, sagte ich mir und fand Leerlauflandungen bei diesen Verhältnissen auch nicht gerade sinnreich. Dass man mir die Schuhbändel abnahm, tagsüber aber zutraute, ein Düsenflugzeug zu steuern, beelendete mich am meisten. Es zerfrass den letzten pilotischen Stolz. Und doch, es hätte völlig anders ausgehen können. Statt in diesem menschenverlassenen Camp, neben Tannicht und Wässerchen einzusitzen, könnte ich mich ebensogut in die ewigen Jagdgründe verabschiedet haben. Gut möglich, dass die letzten Körperreste aus den rauchenden Trümmern meines Flugzeuges und dem in Schutt und Asche liegenden Heuschober geborgen worden wären. Schockiert der Oberst, betroffen die Kameraden und enttäuscht die Fluglehrer. Eltern und Geschwister fassungslos. Schweizerflagge, Peleton, Salutschüsse, Tränen. Er war ein Lieber und Guter. Marschmusik. Erinnerungen beim anschliessenden Essen. Abschreibungen, Abschreckungen, Berechnungen, Vermutungen, Verdrängungen. Fall Werner Walser.
Gut möglich, dass ich an jenem Dachgiebel das gegabelte Leitwerk meines «Blutsaugers» hätte abschlagen können, dass der danach kopflastig werdende Vogel vornüber, sich senkrecht aufstellend, auf die Piste geprallt wäre und danach Nase, Panzerplatte und Instrumentenbrett bis zu meiner Wenigkeit abgehobelt worden wären. Gut möglich, dass der Apparat durch diesen Gewichtsverlust nochmals abgehoben hätte, wie er es mit dem Athos Taminelli bei seinem – nicht selbstverschuldeten – Landeunfall in Dübendorf tat, und gut möglich, dass ich mit demselben, wahnsinnigen «Schwein» wie er die Trümmer zu Fuss verlassen hätte.

Ich öffnete einen Fensterflügel. Es hatte zu regnen begonnen. Leise gluckerte es aus dem Tannenwäldchen. Gerne hätte ich mit jemandem über den heutigen Tag gesprochen und mein Herz ausgeschüttet. Doch diese Möglichkeit gab es hier nicht – und schon gar kein Telefon. Hier musste ich mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ich gähnte. Mein Körper schien sich zu entspannen, seine Ruhe zu fordern und gerade, als ich mich umdrehte, sah ich ihn, den Schatten. Hatte ich etwa doch Gesellschaft? Für einen Affen war er jedenfalls zu klein und morgen ist auch wieder ein Tag, sagte ich mir, und guter Schlaf ist das Riechsalz dazu. Das Drahtgestell ächzte, wie jedes Feldbett, als ich mich in dessen Wanne legte, und noch während ich meinen Blick an die Federung der oberen Liege heftete, fand ich sie, die Gedankenbrücke, und entsann mich besserer Tage.    (Fortsetzung folgt)

Auszug aus dem Buch “Feldgrau und Swissairblau”

Text: Alex Walser

Anmerkung zum Autor: Werner Alex Walser absolvierte nach einer Ausbildung zum Postbeamten im Jahre 1960 die Militärfliegerschule.  Danach war er fünf Jahre als Berufsmilitärpilot im Ueberwachungsgeschwader UeG tätig. Anschliessend wechselte er zur SWISSAIR, wo er als MD-11-Captain 1996 pensioniert wurde. Er veröffentlichte zwei autobiografische Bücher über seine Pilotenkarriere, «Eden und Kerosin», sowie «Feldgrau und Swissairblau». Nach mehreren Romanen ohne fliegerische Inhalte folgte das Buch «Pilotenseele», wo er nochmals zu seinen militärfliegerischen Wurzeln zurückkehrte. Sein bisher letztes Werk trägt den Titel «Horizontlos».

FELDGRAU UND SWISSAIRBLAU    ISBN 9783858824141  Bezug bei wawalser@tbwil.ch CHF 35.- incl Versandspesen

PILOTENSEELE   ISBN 9783038270072 Verlag CMS, Buchhandel, Ex Libris, Amazon, CHF 15.-

HORIZONTLOS    ISBN9783038270232 Verlag CMS, Buchhandel, Ex Libris, Amazon, CHF 15.-

DAS KREUZ DES OSTENS   ISBN 9783858825346 Bezug bei wawalser@tbwil.ch CHF 27.- incl Versandspesen

EDEN UND KEROSIN   ISBN 9783858823663 vergriffen. Im Internet sind aber hin und wieder gebrauchte Exemplare zu finden.

asdf


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