– 09.02.2022 –

Wieder frei …

Mitten in jener Julinacht riss mich eindringliches Rauschen aus dem Schlaf. «Auah!», das Federkostüm des oberen Bettes. Ich sprang ans Fenster. Ein Platzregen prasselte auf den Kies, und im Dunkeln donnerte der «Jungfernsprutz.» Die Wut im Bauch hatte sich gelegt und das Gefühl, ein gesondert zu haltender Übeltäter zu sein, war bereits abgeklungen. Selbst dem kleinen Urner Leutnant, der schliesslich nur seine Pflicht tat, gedachte ich nicht mehr den Hals umzudrehen. Er begann früher zu keimen, als gedacht, der innere Frieden, und ich dämmerte mit ihm wieder weg.

Am nächsten Morgen, es war Donnerstag, der 7. Juli 1960, setzte ich mich völlig ausgeruht auf den Bettrand, betete kurz, aber inbrünstig ein Vaterunser und nahm mir vor, mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich begab mich in den Waschraum, druckte die Handkanten zusammen, füllte sie am kalten Hahn und wusch mich wach. Noch während ich versonnen dem Zahnschaum im Blechtrog nachschaute, guckten mir im Spiegel stumm zwei grinsende Gesichter über die Schultern. Offensichtlich hausten noch weitere Kumpane in diesem Gelass, welche mich, indessen ich mir die Stoppeln schabte, nach dem Grund meiner ehrenwerten Anwesenheit befragten und denen es in Kürze gelang, mich weiter aufzuheitern.
«Hier, weit vom Geschütz, lässt sich doch gut leben», schmunzelten die beiden. Sie seien Hilfsdienst-Soldaten und hätten da den totalen Frieden, meinten sie, nicht ohne sich höflich und dienstbeflissen vorzustellen. Ihrem Versuch, mich seelisch wiederbeleben zu lassen, war ich nicht abgeneigt.
Der Himmel hatte sich leer geregnet. Ohne viel Aufhebens schlüpfte ich wieder in den Beschleunigungsanzug, behelmte und maskierte mich und legte gute Landungen, wahrlich eine schöner als die andere, hin. Kurz vor Mittag, auf dem Weg zur Flugbesprechung, stand der Oberst mit einem Augurenlächeln auf der Treppe: «Heute geht es doch wieder viel besser, nicht wahr, Walser? Wir tun ja alles nur Ihnen zuliebe.» Seine väterlichen Worte waren Seelentrost, verliehen Auftrieb und ich mochte wieder lachen. Sogar Stadlers Kontrollbesuch nahm ich ebenso gelassen hin, wie Brennwalds maschinengeschriebene Strafverfügung. Ich genoss die Stille und die ungestörte Nachtruhe, die einem der Achterschlag nicht bot. Zum Frühstück traf ich topfit und völlig ausgeschlafen auf meine Kameraden und kehrte nach Feierabend nicht ungern in mein Quartier zurück, aus dem schon von weitem das wohltuende Gelächter meiner beiden Mitbewohner erschallte. Offensichtlich hatten sie eine Kissenschlacht hinter sich und lagen jetzt völlig entkräftet am Boden; der Doktor der Ökonomie und der Theaterrequisiteur, dessen Bierbauch sich wie der Blasebalg einer Esse hob und senkte. Selbst mangelnder Ausgang liess sich für drei Abende verschmerzen. Bereits hatte sich eine Art Knastnormalität eingestellt, und es fiel mir schon beinahe schwer, die trappistische Einsamkeit zu verlassen. Am Samstag, bei Arbeitsbeginn, war ich wieder ein «freier Mann» und wusste immer noch nicht, warum der Wald ausgerechnet «Affenwald» hiess. Unsere Vamps standen Untertag. Wie nasse Tücher klebten Nebelfetzen über der Kaverne, und Kühe weideten neben der Piste.
Mutter holte mich, wie jedes Mal, am Bahnhof ab. Sie sehe stets schon von weitem, ob es mir gut gelaufen sei oder nicht, hatte sie einmal mit lieb umsorgender Überzeugung gesagt. Ich liess ihr diesen Glauben, und es verstrichen Wochen, bis ich von meinem Unstern beichtete.

Wie lernt man einen Abstand von hundert Metern zu einem anderen Flugzeug schätzen? Und wie sieht ein um 45° nach hinten geöffneter Winkel aus? Nach Theoriestunden stellten sie uns am Montag zwei

1960 Meiringen/Unterbach: Affenwald

Flugzeuge in genau dieser Position zueinander auf den Betonplatz. Wir setzten uns in die hintere Maschine, merkten uns das Grössenverhältnis und wo der Kopf des Führers auf dem Flügel aufliegen musste, damit wir 45° nach hinten versetzt und um 8 m nach unten gestuft zu ihm fliegen werden. Nach einigen Minuten hatte man sich dieses Bild so gut eingeprägt, dass man damit am P-3-Doppelsteuer abheben und sich dem Führer zunächst im Geradeausflug nähern und durch Angleichen der Geschwindigkeit den Platz halten konnte. Formationsfliegen lag mir gleich zu Beginn.
Den ersten Verbandsflug auf dem Vampire flog ich als Patrouilleur, auch «Sohn» oder «Unterhund» genannt, von Brennwald, während uns ein Leutnant wie ein Schatten folgte und mich korrigierte. Ich war in wenigen Minuten tropfnass, alles klebte auf der Haut. Dennoch lief es ausgezeichnet, und die beiden waren, am Funk unüberhörbar, wohl angetan. Wie immer mein Führer in der Luft hing, versuchte ich seinen Helm über seinem Flügel nicht aus den Augen zu verlieren, ihn mit feinen Steuerausschlägen festzuheften und synchron mitzuschwimmen. Sogar auf überraschende Fragen nach unserer geografischen Position hatte ich Antworten. Dann stachen wir mit einem «Affenzahn» auf den Brienzersee hinunter und landeten erstmals im Zweierverband, alles paletti. Ich führte und spürte das Ruder wieder.

Bei Mühlethurnen im Gürbetal, südlich von Bern, liess der Schiessleiter in einer Wiese ein grosses gelbes Kreuz auslegen. Hier begannen wir stets aus gleicher Ausgangslage und anfänglich auf dem Doppelsitzer mit Zielanflügen ohne Munition. Fluglehrer war Stalder. Zunächst ging alles viel zu schnell, flog einem förmlich um die Ohren. Alles war in Bewegung, nirgendwo bot sich ein Handlauf, doch er führte mich ruhig und professionell heran und ich kapierte es. Der Abend war dienstfrei und Stalder bat mich, mit ihm nach Brienz zu fahren, um, wie er sagte, einmal bei einem Glas Wein mit mir zusammensitzen zu können. Er wollte, und das schätzte ich sehr, unter vier Augen Parallelen zwischen seiner und meiner fliegerischen Entwicklung aufzeigen.
«Wir machen zwar Akrobatik und fliegen andere, nicht ungefährliche Manöver», begann er noch bevor wir anstiessen, «wollen aber dennoch nicht jene Risiken eingehen, wie es Willy Eicher & Co. taten. Menschenleben, aber auch unser vom Bürger zur Verfügung gestelltes Flugmaterial, sind zu kostbar», weitete er das Thema aus. «Gehen Sie also nicht zu draufgängerisch ran, Korporal Walser, sonst wird man in diesem Geschäft nicht alt – und übrigens…, vergessen Sie den Arrest, der wird in Ihrer Karriere keinerlei Rolle spielen», fuhr er fort und schaute mich ernsthaft an. Ich nahm mir seine Worte zu Herzen und war für dieses Gespräch, das genau im richtigen Moment stattfand, sehr dankbar.

Kaum hatte man sich an das Achterbahngefühl auf der Schiessvolte gewöhnt, folgte dasselbe im DH-100. Zehnmal, zwanzigmal, aus genau 1500 Metern und mit 550 Kilometern pro Stunde über Madame de Meurons Schlösschen Burgistein abkippen, immer wieder gleich steil, gleiche Leistungshebelstellung, gleiche Wechselbeziehung Fadenkreuz/Ziel, präzis auf zwölfhundert Meter mit präzis gleicher Geschwindigkeit, Funktaste drücken und präzis im gleichen Tempo die zwei Sekunden lange Schussdauer auszählen: Einundzwanzig, zweiundzwanzig, sofort loslassen und unverzüglich mit 4g abflachen, weg vom Wiesengrund, bis es sass.

Die Flugwaffen-Führung hatte sich entschieden, alle DH-100 mit Martin-Baker-Schleudersitzen nachzurüsten. Erst die Hälfte unserer Schulflotte war modifiziert. In der Folge teilte man, entsprechend der Gefährdung, den Verbandsführern, also unseren Offizieren, in erster Linie abgeänderte Flugzeuge zu, was wir so durchaus akzeptierten. An Flugzeugen mangelte es nicht, höchstens an unseren Kräften. Wir wechselten pausenlos Typ und Disziplin. Man musste sich ständig klemmen, sich nie zufrieden geben, jeden Fehler in seinem Ursprung eliminieren und sich trotzdem nicht verkrampfen. Den Luftraum über dem Platz belegte öfter einer, um mit seinem P-3 oder Bücker Kunstflug zu üben.
Eben hatten wir unsere Vampire abgestellt und guckten auf dem Rückweg einem Kameraden zu, der seinen Jungmeister forderte. Er wirbelte den gelben Vogel schon recht gekonnt im Himmelszelt herum, das man blau zwischen die Bergketten gespannt hatte. Genau da lag das Problem: diese hohen Höcker verfälschten den natürlichen Horizont, den weite Ebenen oder das Meer dem Piloten so messerscharf bieten. Ein ungewöhnlich zunehmender Motorenlärm liess uns innehalten und mit der Hand die Sonne abdecken. Der Jungmeister streckte seine Räder nach oben und der Schüler legte die Maschine gerade für einen Rückenkreis ein, eine Figur, bei der sich die gezackte, natürliche Horizontlinie besonders negativ auswirkte. Offensichtlich liess sich der Mann am Steuer davon innert Sekunden irritieren und stach mit zunehmender Geschwindigkeit, mit immer lauter «furzendem» Feststellpropeller

1960 Payerne: DH-100 Vampire

und überdrehendem Motor, wahrscheinlich tapfer gegen Steuerdrücke ankämpfend, auf eine Felswand zu.
«Aufrichten, aufrichten, um Gottes Willen!», schrie Bachmann und schoss hinter dem Turm hervor, von wo er mit einem Fluglehrer die Darbietung vom Boden aus mitverfolgt hatte. Mangels Funkverbindung war auch er, wie wir alle, zum hilflosen Zuschauer verdammt. Das Schlimme blieb uns erspart und der Vogel drehte sich gerade noch rechtzeitig wieder in Normalfluglage. Auch dieses Vorkommnis setzte ein Donnerwetter ab.

Nach drei Wochen Zielanflügen, manchmal vierzig pro Tag, mit Film belegt, wurden die Kanonen geladen und wir feuerten auf ein Ziel im Sempachersee. Zwanzig Schuss verteilt auf vier Anflüge. Der Puls schnellte hoch, als ich die Waffe entsicherte, Beklemmung abschüttelte, das Fadenkreuz in der Neunzig-Grad-Angriffskurve auf das Wasser hinunterzog, wo es unaufhörlich um das winzige Ziel herumschepperte und ich den rechten Zeigefinger an den Abzug legte. Kämpfen, schön auf den oberen sechs Meter Balken des gelben Zielquadrates auflegen, der Grössenvergleich stimmt, zwölfhundert Meter, Schussdistanz, ich drücke ab, augenblicklich belfert die Kanone unter dem Sitz, sofort loslassen, den Schüssen nicht nachschauen, wegziehen und im letzten Moment, gerade bevor die Zieltücher aus der Frontscheibe verschwinden, sehe ich die weissen Spritzer im Wasser.
«Uno», meldete Maxime, der Schiessoffizier. «Quattro» wäre ein Volltreffer gewesen. Ein Nahtreffer war nicht schlecht für das erste Mal. Wenn die Stimmung wieder einmal gedrückt war, weil bei einem die Leistung zu wünschen übrig liess, folgten wir der Empfehlung des Obersten und entspannten uns im Ausgang. Ob er das jedoch genau so meinte, wie wir es umsetzten? «Flora» hiess Meiringens In-Lokal, das tropische Gefühle mit attraktiver Barmaid vermittelte. Ausser Bachmann schüttelte sich ein Grossteil der Schule, jeden Grades, regelmässig im «Flörli» die Pflicht ab, liess sich einen «On the Rocks» eingiessen, züpfelte an Haslimädchen herum oder liess sich gar zu Frauenheldentätchen hinreissen.
Meinen Arrest hatte ich längst vergessen, es lief mir gut und mein Selbstwertgefühl war wieder auf dem rechten Fleck. Einer der Aufträge lautete, in Dübendorf, dem Mekka für Militärpiloten, eine Aussenlandung durchzuführen. Mit dem Vampire, wie die Grossen. Über Rapperswil versuchte ich eine Lücke im Gequassel zu erwischen, schluckte nochmals und meldete mich zur Landung an. Alles lief wie am Schnürchen, bis es Zeit wurde, das Fahrwerk auszufahren. Ich guckte nochmals nach unten, ja, ich hatte den richtigen Hebel betätigt… versuchte es noch einmal… und wieder nichts. Das Fahrwerk schlief im Flügel weiter, regte sich ebenso wenig wie die Landeklappen. Höhe halten, in den Orbit eindrehen, Problem dem Turm melden und Merkblatt für Notfälle durchgehen. Auf einer anderen Welle unterstützte man mich mit technischen Ratschlägen. Glücklicherweise war das vermutete Hydraulikleck an einem günstigen Ort und die Widerstände liessen sich mit der Handpumpe vollständig ausfahren und sicher verriegeln. Die Landung – von der Feuerwehr begleitet – verlief problemlos. Händeschütteln und Gratulation auf der Flugdienstleitung: Professionell! Nervenstark! Das alles in Dübendorf, Nektar für einen Pilotenschüler. Kein Tag verging ohne kleinere oder grössere Vorfälle. Eben vom Urlaub zurück, verunfallte Oberst Bachmann mit seinem funkelnagelneuen Dienst-Mercedes

1960 Meiringen/Unterbach: Kantine

in einer Brünigkurve, konnte jedoch glücklicherweise dem arg demolierten Wagen unverletzt entsteigen. Am 22. September stürzte ein UeG-Leutnant bei einem Wetterunfall in der Lenzerheide mit dem Venom tödlich ab, und «unser» Storch, der seit Tagen sich mit nichts vertreiben liess, kollidierte, wie befürchtet mit einem startenden Vampire. Sein Schnabel vermochte die Bordwand seitlich zu durchschlagen und wurde auf den Knien des blutüberströmten Piloten gefunden.

Grosse Ereignisse warfen ihre Schatten voraus: Umzug nach Payerne, wo wir auf den De Havilland DH-112 Venom umschulen und in drei Wochen Angehörige zum Elterntag einladen durften. Die theoretische Vorbereitung für den Venom begann schon in Meiringen. Dank dünnerem, leicht gepfeiltem Flügel und einem stärkeren Triebwerk waren die Leistungen gegenüber dem ähnlich aussehenden Vampire markant gesteigert worden. Das Flugzeug war in jeder Beziehung eine neue Herausforderung, nicht mehr so pflegeleicht und doch eine echte Wucht.

Ein De Havilland Testpilot flog einen der ersten Vampire in die Schweiz. Offensichtlich wollte er anschliessend Skifahren.

Einer der ersten Schweizer Vampire Piloten war Hptm. William Frei. Der Hangar deutet darauf hin, dass er auf der Rasenpiste in Locarno-Magadino gelandet ist.

Auch der Venom fackelte ebenso wie der Vampire beim Triebwerkstart hin und wieder Kerosinreste ab.

Ganz so eng wie hier die Fl St 17 sind wir in der Fliegerschule noch nicht geflogen.

Der Vampire-Trainer Mk. 55 U-1239 – eine von ingesamt 39 beschafften Einheiten – stattete dem höchst gelegenenFlugplatz der Schweiz einen Besuch ab. Der Doppelsitzer rollte nach der Landung auf Piste 03 auf dem parallel verlaufenden Taxiway zurück auf den Abstellplatz.

Text: Alex Walser  Fotos: Alex Walser

Anmerkung zum Autor: Werner Alex Walser absolvierte nach einer Ausbildung zum Postbeamten im Jahre 1960 die Militärfliegerschule.  Danach war er fünf Jahre als Berufsmilitärpilot im Ueberwachungsgeschwader UeG tätig. Anschliessend wechselte er zur SWISSAIR, wo er als MD-11-Captain 1996 pensioniert wurde. Er veröffentlichte zwei autobiografische Bücher über seine Pilotenkarriere, «Eden und Kerosin», sowie «Feldgrau und Swissairblau». Nach mehreren Romanen ohne fliegerische Inhalte folgte das Buch «Pilotenseele», wo er nochmals zu seinen militärfliegerischen Wurzeln zurückkehrte. Sein bisher letztes Werk trägt den Titel «Horizontlos».


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