-04.07.2022-
An einem Samstag rochierten wir mit der Rekrutenschule, die nach Meiringen-Unterbach zog und bereits am Sonntagabend danach rückten wir – unter völlig anderen Vorzeichen – in Payernes menschenleere Fliegerkaserne ein. Nach einem guten Jahr wieder einmal das unverwechselbare Duftgemenge von Leder, Gewehrfett, Küche und Schweiss einzuziehen, löste gemischte Gefühle aus.
Bereits am Montag schnallten wir uns zum ersten Mal in einem Venom an. Der Blick aus dem Cockpit, über Grenzschichtzäune zu den Flent, den tropfenförmigen Flügelendtanks, empfand ich als stark flugerotisierend. Das Laufenlassen des Triebwerks lief völlig anders ab und war ein Spektakel für sich. Die Ghost-Turbine wurde nämlich autonom, mittels einer der beiden bordseitigen Pulverpatronen, gestartet. Wie ein Wal stiess der Venom bei diesem Vorgang eine über fünf Meter hohe, schwarze Rauchfontäne in die Luft, und das von Sulzer in Lizenz gebaute Triebwerk zündete unverzüglich. Der Start verlief ähnlich dem des Vampires, aber zügiger. Einmal in der Luft, zeigte der Jet seine Qualitäten: präzis, wie ein Käsemesser, dennoch wendig und schnell, war der einhellige Tenor. Das Flugzeug liebte den Äther in all seinen Dimensionen. Es zu fliegen, war Klasse. Aber, die Maschine war, wie sich noch herausstellen sollte, vor allem bei hohen Flügelanstellwinkeln, was bei tiefen Geschwindigkeiten und enggezogenen Kurven die Regel ist, besonders heikel. Stärker und schneller hiess auch damals schon: mehr Belastung für den Piloten, in engen Kurven noch mehr den Rücken runden und in die Maske pusten. Der Venom war unser Kriegsflugzeug und der Staat erwartete, dass wir dieses Instrument entsprechend seinen Vorgaben einsetzen konnten. Unsere fliegerische Ausbildung wurde diesbezüglich laufend theoretisch begleitet, und die persönliche Kofferbibliothek umfasste bereits über zwanzig zum Teil dicke Reglemente: Geschossballistik, Erfolgsaussichten mit Kanonen, Raketen oder Bomben auf feste, weiche oder bewegliche Ziele. Nichts für Zartbesaitete.
De Havilland DH-112 Venom in Dübendorf
Forel, benannt nach dem Aviatikpionier, war der permanente Schiessplatz der Flugwaffe am Lac de Neuchâtel. Kaum hatte man in Payerne die Räder eingezogen, war man schon auf der Schiessvolte. Obwohl der Venom die stabilere Plattform als der Vampire bot, das Treffen war dennoch nicht einfacher geworden. Die Abläufe waren schneller, der Wind blieb das himmlische Kind; die zwei Sekunden Flugdauer der Geschosse genügten ihm, um sie gründlich zu verblasen, und aus zwölfhundert Metern Distanz war das Ziel auch in einem Venom eine Mücke. «Näher ran, dann triffst du besser!», flüsterte das Teufelchen immer öfter und versuchte einem vergessen zu machen, dass man dadurch zu tief kommt, von Splittern getroffen werden oder gar mit dem Wasser kollidieren könnte.
«Das Leben ist zu kurz, um alle Fehler selber zu machen! Ihr müsst von anderen lernen!», bleute man uns immer wieder neu ein.
Endlich kam der Tag, an dem wir voller Ungeduld die Ankunft der Swissair DC-3 erwarteten, welche unsere Angehörigen von Zürich nach Payerne brachte. Gut gelaunt entstiegen Papa, Mama und Max der Maschine. Der Himmel war bedeckt und man hielt sich die Hüte auf dem Kopf. Wir waren uns bewusst, dass wir in den paar Stunden nur einen kleinen Querschnitt zeigen konnten, und liessen die Gäste noch vor dem Mittagessen in unsere Venom und in einen Hunter klettern. Der Flugdienst am Nachmittag beeindruckte sie vollends: Schiessen am Neuenburgersee und ein Defilee von dreizehn Vampire in enger Formation. Es klappte und wir hofften, damit ihre ärgsten Bedenken ein klein wenig abzubauen.
Wenige Tage vor Ende der Schule tankten wir in Meiringen auf. Ein Himmel, so blau wie handgemalt, bunte Wälder und gepuderte Bergspitzen liessen uns an einem der letzten Flugtage mit Hochgefühl ins Haslital einschweben. Rekruten, präzis ein Jahr jünger als wir, warteten und tankten unsere Flugzeuge. Das hätten wir uns vor zwölf Monaten nicht träumen lassen. Etwas liess mein Herz ganz besonders jauchzen. Der vermaledeite Heuschober war weg. Wenigstens dieses Plus liess sich meinem Fehlanflug zuschreiben.
Leider ereignete sich dennoch kurz nach unserer Stippvisite in Meiringen ein fürchterlicher Unfall: Ein welscher Staffelpilot hatte nach dem Schiessen auf der Axalp, unweit des Flugplatzes, infolge eines Defektes in der Treibstoffversorgung einen Triebwerkausfall, dem beim Hunter zwangsweise auch das Versagen des Hydrauliksystems und der Servosteuerung folgte. Wahrscheinlich wurde der Pilot – der aus privaten Gründen in Kürze aus dem Flugdienst ausscheiden wollte – von dieser Situation ebenso überrascht wie überfordert. Er brachte das Flugzeug mit nur teilweise ausgefahrenem Fahrwerk viel zu schnell, mit rund 500 km/h, zu Boden. Der schwer steuerbare Hunter sprang nach dem harten Aufsetzen wieder in die Luft, legte sich auf den Rücken und rutschte, sich mehrmals überschlagend, aus, wobei der Pilot in den Trümmern seines Flugzeuges umkam.
Trotz dieses tragischen Unfalls mussten wir uns über die berufliche Zukunft Gedanken machen. Die meisten strebten eine Karriere als Berufspilot an. Dabei boten sich hauptsächlich zwei Optionen an: Ueberwachungsgeschwader (UeG) oder Swissair. Beide Arbeitgeber suchten Kandidaten, weshalb wir angenehm umworben wurden. Um das bisher Gelernte gründlich festigen zu können und die heiklen Militärflugzeuge noch besser in den Griff zu bekommen, entschied ich mich, dem UeG beizutreten und es erst in einigen Jahren in Kloten zu versuchen. Dieser Entscheid hatte Vater gefreut, welcher der Verkehrsfliegerei stets mit Vorbehalt gegenüberstand. Dienstkollegen hatten ihm nicht die beste Presse von der Swissair hinterlassen. Der Bund sei der sicherere Arbeitgeber, fand er, zielte aber eher auf das moralische Umfeld der Verkehrsfliegerei.
Meine Tage bei der Post waren gezählt. Die Fliegerei wurde mein Schicksal.
Endlich, an einem goldenen Herbstmorgen, brach für uns der längste und schönste Tag an. Ein Hochzeitspaar hätte sich keine märchenhaftere Kulisse wünschen können. Dank guten Verbindungen unserer Führung machten die Eigentümer von Schloss Surpierre eine grosse Ausnahme und luden uns zu sich ein. Erhaben überschaute ihr Besitz die Broye- Ebene bei Lucens.
Im Hof empfing uns alles, was in der Flugwaffe Rang und Namen hatte: Divisionär Etienne Primault, Brigadier Troller, Oberst Blötzer, «Prosak», der protestantische, und «Kasak», der katholische Feldprediger, unser Schulkader und vor allem unsere Familien.
Im grossen Rittersaal stellten wir uns vor Oberst Bachmann auf. Sichtlich beeindruckt scharten sich der Kader auf der einen und die Angehörigen auf der anderen Seite des stilvollen Raumes. Man wurde einzeln aufgerufen, stand in Marschschuhen, mit umgehängter Pistole und aufgesetzem Stahlhelm stramm und nahm über der gesenkten Standarte das Militärfliegerbrevet entgegen, indessen der Schlosshund draussen friedlich unsere Pasteten wegfrass.
Oberst HH. Bachmann brevetiert mich auf Schloss Surpierre zum Militärpiloten
Es sprach der Divisionär, es sprach der Oberst, es sprachen die Pfarrer.
Alle kurz und würdig, wie wenn wir eben die letzte Ölung empfangen hätten.
Niemandem war es ums Lachen.
Wer fragte sich nicht, wem von uns fünfzehn wohl als Erstem die letzte Ehre erwiesen werden müsste. Er gab uns noch zwei Jahre, bis der Fliegertod den ersten aus unserer Reihe holte. Kurzlebig waren solche Gedanken in unserem Hirn. Wir schlüpften entschlossen in den neuen Waffenrock, auf dessen Ärmeln Lorbeerkranz und Schweizerkreuz prangten, vor allem aber auf der linken Brust das Pilotenabzeichen flammte. Es floss der Chasselas, es klirrten Gläser, und Zungen lösten sich, querbeet durch Saanegraben, Eichenlaub und Sterne.
Gäste an der Brevetierung v.l.n.r: Ernst Walser (Bruder Nr. 2), Anna Walser (Mutter), W.A.W. (Pilot und Wachtmeister), Felix Walser (mein Pate).
Die charmante Schlossherrin bat darauf zum Dinner. Nur für Augenblicke setzten uns antike Gemälde und kostbare Kunstgegenstände im Speisesaal in Ehrfurcht und alte Zeiten zurück, dann genossen wir das Jetzt. Eben waren wir, noch unserer fünfzehn, in den wohl elitärsten Club Helvetiens aufgestiegen und stiessen gerne mit unseren Offizieren an. Bis gestern noch Unterhunde und jetzt annähernd ihresgleichen.
Major Maxime Christen (Stv. Schulkommandant), Oberst HH. Bachmann (Schulkommandant)
Deutschschweizer Schulklasse v.l.n.r. Wm Hofer Erwin († Furka 27.8.1962, 3er Venom Verband), Wm Walser, Wm Kaufmann Peter, Wm Lindauer Hardy, Oblt Brennwald Manfred, Wm Ruggaber, Lt Wieser Bernhard, Lt XY, Wm Grünewald Gerd
Am Tag danach wartete der Stapel unserer Helmschachteln ebenso darauf nach Dübendorf spediert zu werden wie der Haufen Effektensäcke, deren Inhalt gute Seelen überprüfen, waschen und reparieren werden. Wir gingen einmal mehr auseinander, doch diesmal trennten sich unsere Wege gründlich. Nie mehr würden wir in dieser Zusammensetzung für so lange Zeit so vieles gemeinsam erleben dürfen. Wir nahmen aber auch mit viel Rührung und Dankbarkeit Abschied von unserem verständnisvollen Schulkommandanten, der uns mit viel Einfühlungsvermögen und der richtigen Portion Unbeirrtheit geführt hatte.
Die ganze Schule Ende Oktober 1960 in Payerne vor und auf einem Venom. Lehrkörper mit steifen Hüten. 15 brevetierte Pilotenschüler mit Police-Mützen. Lt Wicki Fridolin, Lt Stauffer Erwin (damals noch Fw) und Wm Hofer Erwin sind in den nächsten drei Jahren bei Flugunfällen ums Leben gekommen (weisse Kreuze).
Text: Werner Alex Walser Titelfoto: Bilderarchiv Stiftung MHMLW Fotos: Werner Alex Walser