-16.11.2022-
Der Erhalt des menschlichen Gleichgewichtes unter verschiedensten äusseren Bedingungen ist das Resultat eines hochkomplexen Zusammenspiels verschiedener Organsysteme, das völlig automatisiert – autonom – im Hintergrund abläuft, und von uns Menschen im Normalfall überhaupt nicht wahrgenommen wird. Eine willentliche Einflussnahme auf diese Regulationssysteme ist ebenfalls nicht möglich.
Aus der «Peripherie» des Körpers gelangen andauernd Wahrnehmungen von Sinnesorganen (Augen, Innenohr) aber auch aus den Extremitäten in die «Zentrale» – das Gehirn -, wo diese Informationen permanent zu einem sinnvollen Ganzen verarbeitet und fusioniert werden, sodass das Gleichgewicht im Stehen und Gehen jederzeit gewährleistet ist.
Was dies für eine ungeheure Rechnerleistung des Zentralnervensystems impliziert, können wir nur ansatzweise erahnen und liesse jeden Computer vor Neid erblassen – sofern er zu solchen menschlichen Regungen denn in der Lage wäre -, beziehungsweise lässt sich bisher durch den Menschen auch nicht künstlich simulieren.
Die entscheidenden peripheren Impulsgeber sind dabei das optische System mit den Augen (funkionieren wie ein Fotoapparat, der eigentliche Seheindruck wird jedoch in der Sehrinde im Hinterhaupt – Occipitalhirn – generiert), das Gleichgewichtsorgan im Innenohr, sowie die sog. Propriozeptoren (Rezeptoren = «Sensoren» der sog. Tiefensensibilität) wie Muskelspindeln (Dehnungsrezeptoren), Golgi-Sehnenorgane und sensible Rezeptoren der Gelenke.
Im Zusammenspiel vermitteln sie Informationen über Stellung und Bewegung des Körpers im Raum. Auch vielfältigste oberflächliche Rezeptoren der Haut (Mechano-, Thermo- und Schmerzrezeptoren) spielen eine wichtige Rolle.
Mit von der Partie ist schliesslich auch noch das Kleinhirn, das übergeordnet als modulierendes Kontrollorgan für die Koordination der Muskelbewegungen und der Bewegungsabläufe, sowie der Muskelspannung verantwortlich ist.
Optisches System
Gleichgewichtsorgan
Propriozeptoren (in Muskeln, Sehnen, Gelenken)
Sobald nun unser Körper in Bewegung gerät, sei dies zu Lande, auf dem Wasser, in der Luft oder auch im Weltraum unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit, können bewegungsinduzierte Störungen, die sogenannten Kinetosen auftreten, die entgegen dem etwas irreführenden Begriff «motion sickness» kein Ausdruck einer eigentlichen Erkrankung sind. Sie entstehen deshalb, weil die aus den verschiedenen Systemen von der Peripherie des Körpers stammenden – in der oben beschriebenen Weise erzeugten und dem Gehirn übermittelten – Informationen für dieses zum Teil widersprüchliche Angaben liefern, die nicht mehr zu einem eindeutigen Gesamtbild verarbeitet werden können. Das Gehirn «kommt nicht mehr draus».
Die dadurch verursachten Störungen äussern sich mit folgenden Symptomen:
Übelkeit, Erbrechen, Blässe, Schwitzen, allgemeines Unwohlsein. Bei Verschlechterung treten starker Speichelfluss, Hitzegefühl, Gähnen, Benommenheit und Apathie, schliesslich Erbrechen auf. Ebenso sind Hyperventilation und meist im Stirnbereich lokalisierte Kopfschmerzen geläufig.
Je nach Umgebung in der sich der Mensch befindet, spricht man von der jedermann bekannten Reisekrankheit (auf dem Lande), von Seekrankheit (seit den Urzeiten der Seefahrt bekannt), von Luft-, oder von Raumkrankheit (Raumfahrt). Bei der See- und Raumkrankheit übrigens mit längerem Aufenthalt unter den ungewohnten Umgebungsbedingungen treten die Symptome nach Verlassen von Schiff bzw. Raumfahrzeug erneut auf. In der Seefahrt bekannt unter dem Begriff «mal de débarquement». Der Boden bewegt sich nach Betreten des Festlandes.
Analoge Phänomene übrigens können beim Kamelreiten, auf einem schwankenden Hochhaus, im Flugsimulator (Simulator Sickness) oder unter einer Virtual Reality-Brille (Virtual Reality bzw. Cinerama Sickness) auftreten.
Die geläufigste Form, die Reisekrankheit ist wohl jedem von uns bekannt und kann bei verschiedensten Formen der Fortbewegung auf dem Boden auftreten. Sehr geläufig beim Autofahren in Form von Übelkeit und Erbrechen, klassischerweise der hinten sitzenden Kinder.
Eine auslösende Funktion hat dabei der Bewegungsreiz für die auf und ab schaukelnden Kinder, die ja oft versuchen, sich mit den Augen an der vorbeiziehenden Landschaft «festzuhalten», was die Situation noch verschlechtert und das Malaise verschlimmert.
Ebenso schlecht kommt es heraus, wenn die Autoinsassen während der Fahrt versuchen zu lesen, oder Computerspiele zu spielen.
Jedoch: Nicht alle Menschen reagieren von Natur aus gleich empfindlich auf diese Bewegungsreize. Es stellt sich bei entsprechendem Training bei vielen Menschen ein Lerneffekt des Gehirns ein, dies im Rahmen der sog. «Neuroplastizität», einer einzigartigen Anpassungsmöglichkeit unseres Zentralnervensystems.
Gewiefte Kinder finden auf diese Weise heraus, dass es ihnen nach genügender Praxis beim Spielen von Computerspielen oder Lesen von Comics während der Autofahrt auf wundersame Weise plötzlich nicht mehr schlecht wird. Man spricht von «Desensibilisierung», in gewisser Analogie zur medizinischen Desensibilisierung bei allergischen Erkrankungen, wo mit Spritzen-Serien von langsam steigenden Konzentrationen des auslösenden Stoffes (z.B. Pollenextrakt) in die Haut der Körper sich an diesen schliesslich gewöhnt, und die Allergie im besten Fall verschwindet, oder sich abschwächt.
Die Neuroplastizität übrigens bleibt dem Menschen bis ins hohe Alter erhalten.
Folgerung: Es ist nie zu spät etwas Neues zu erlernen, beispielsweise ein Instrument zu spielen, sich vertieft mit irgendwelchen Sachgebieten zu befassen, eine neue Sprache zu entdecken – der Beispiele sind unzählige. Gerade für die Musik ist wissenschaftlich erwiesen, dass bestimmte Hirnareale während des Lernens deutlich an Grösse zunehmen – nicht zuletzt stellt dies auch eine wirksame Demenzprophylaxe dar.
Nun zurück von der Demenzprophylaxe hin zur Fliegerei!
Häufigkeit des Auftretens der Kinetose im Flugzeug
Abhängigkeit von folgenden Faktoren:
- Physikalische Art des Reizes: Frequenz, Intensität, Richtung und Dauer
- Individuelle Empfindlichkeit: Einfluss von Alter, Geschlecht, Genetik (Ausmass der Adaptation), Ethnie (Asiaten empfindlicher), gesundheitlicher Zustand etc.
- Art der aktuellen Aufgabe, Tätigkeit
- Umgebungsfaktoren (Gerüche, Temperatur, Lärm etc.)
- Mentale Einflüsse (wichtig!)
In heutigen Passagierjets beträgt die Häufigkeit ca. 1%, beim Durchfliegen von Hurricanes dagegen bis zu 100%, d.h. praktisch alle sind am Erbrechen…
Kein Elefantenkondom oder Windsack, sondern ein zeitgemässer faltbarer Plastik-Brechbeutel aus dem Medizinalbereich
In der Militärfliegerei bei Pilotenschülern 39% (Royal Air Force), im Durchschnitt aller Militärpiloten 13.5% (US Navy), 15-30% entwickelten nie Kinetosesymptome. Routinierte Piloten leiden selten unter Symptomen, ausser sie sind selber Passagiere! In der Raumfahrt sind Astronauten/Kosmonauten zu 40-60% betroffen.
Das optische System – «die Augen» – stellen (neben dem Gleichgewichtsorgan, das die Hauptrolle im Blindflug übernimmt) die wichtigste Informationsquelle des Piloten für seine Orientierung im Raum dar. Folgerichtig sind deshalb Funktionsstörungen in diesem Bereich der medizinische Hauptausscheidungsgrund bei Militärpilotenanwärtern (Dr.med. A. Kunz, Chefarzt FAI Dübendorf).
Prävention und Behandlung der Kinetose
Bei Flugschülern ist es wichtig, dass sowohl bei der Ausbildung im Simulator wie auch im realen Schulungsflug von den Instruktoren auf eine schrittweise Kinetose-Desensibilisierung geachtet wird. Also keine komplexen Flugmanöver zum Ausbildungsbeginn, speziell nicht bei bekannterweise empfindlichen Personen. Regelmässige Exposition mit Mass sorgt für bessere Adaptation. Flugschüler müssen darauf hingewiesen werden unnötige Kopfbewegungen während Manövern zu vermeiden, mit dem Flugzeug «mitzugehen», ein Teil des Flugzeuges zu werden.
Bei Passagieren bieten sich folgende Vermeidungsstrategien an:
Vermeiden von Risikosituationen = Lesen bei Manövern oder Turbulenzen, Bodenbeobachtung bei vorbeiziehenden Wolken.
Hilfreich sind Ablenkung durch ein interessantes Gespräch (mentale Komponente!), Schaffen einer «heilen Welt»: Betrachten des Horizontes am Fensterplatz schafft dominanten Reiz des hierarchisch organisierten Zentralnervensystems.
Bei Crews Desensibilisierung selten nötig: repetitive mehrachsige Stimulation in steigender Intensität auf kardanisch gelagertem Stuhl, Biofeedback, Entspannungsmethoden mit passiver Stimulation des Gleichgewichtsorgans.
Medikamentöse Möglichkeiten:
Bei Piloten nur mit äusserster Vorsicht und nie bei Solo-Flügen. Trockenübungen vorgängig obligat!
Merksatz (gilt generell in der Medizin, unabhängig von der Substanzklasse!):
Alle wirksamen Medikamente haben auch Nebenwirkungen!
Nutzen/Risiko-Abwägung.
Alle unten aufgeführten Substanzen wirken zentral (auf das Gehirn) dämpfend, Wirkdauer 4-6, max. 8 Std
Beispiele:
-L-Scopolamin – Pflaster, transdermal, Achtung wirkt anticholinerg = > Sehstörungen!
-Promethazin, Psychopharmakon (Phenothiazin)
-Dimenhydrat, Antihistaminikum, antiallergisch
-Chlorphenamin, Antihistaminikum, antiallergisch
-Cinnarizin, Calciumkanalblocker, gegen Schwindel, Tinnitus
Text: Dr.med. Theodor Huber, Facharzt Innere Medizin FMH
Quellenangaben:
- Physiology and Human Factors in Aviation Medicine, Editor in Chief Air Marshal Sir Geoffrey Dhenin, Director-General of Royal Air Force, Medical Services, Principal Author Wing Commander G.R. Sharp, ChB., PhD., Tri-Med Books Ltd. London 1978
- Moderne Flugmedizin, Siedenburg u. Th. Küpper, Gentner-Verlag Stuttgart 2015
- Bilder: div. Wikipedia, Pharmazeutische Zeit, Taucher.net
- https://www.mobilesport.ch/erwachsenensport/sensomotorisches-training-aufbau-eines-trainings/