-17.04.2023-

Im Frühling und Sommer 2021 brachte Russland mehrere Manövergruppen in Korpsgrösse entlang der nördlichen, östlichen und südlichen Grenze der Ukraine in Position. Diese Truppenverschiebungen wurden unter dem Vorwand von Manövern durchgeführt. Weissrussland (Belarus) stellte dabei Russland sein Territorium zur Verfügung. Im Herbst und Winter verschärften sich die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine zunehmend. Eine diplomatische Lösung des Konflikts wurde immer unwahrscheinlicher und es wurde ausdrücklich vor einem Krieg gewarnt. Erste Lieferungen von leichten Waffen aus dem Westen gelangten in die Ukraine.

Der Krieg bricht aus

In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 verkündete der russische Präsident im Staatsfernsehen, dass eine militärische «Spezialoperation» zur Entnazifizierung der Ukraine und zum Schutz der Bevölkerung in der Ostukraine gestartet wird. Bereits einige Stunden vor dem Auftritt des Präsidenten feuerte Russland die ersten Marschflugkörper und ballistischen Lenkwaffen auf militärisch wichtige Infrastrukturen der Ukraine. Das Undenkbare geschah – ein anderes Land griff einen europäischen Staat militärisch an. Unmittelbar nach den Luftangriffen setzten sich die an der Grenze zur Ukraine stehenden Manövergruppen in Bewegung. Bereits nach wenigen Tagen zeichnete sich die Strategie des russischen Angriffsplans ab.

Die Strategie Russlands und die Problemstellung für die Ukraine

Problem Nr. 1: Eine russische Manövergruppe stiess aus dem Süden Weissrusslands direkt auf die ukrainische Hauptstadt Kiew vor, um die ukrainische Hauptstadt rasch möglichst zu besetzen und die ukrainische Regierung auszuschalten oder zumindest gefangen zu nehmen. Diese Absicht war das wichtigste strategische Ziel des russischen Feldzuges. Für die ukrainischen Streitkräfte galt es, diesen russischen Vorstoss unter allen Umständen zu verhindern.

Problem Nr. 2: Aus den Räumen Brjansk, Kursk, Belgorod und Rostow stiessen zwei Manövergruppen über die Grenze, um zum einen den Stoss im Norden auf Kiew zu unterstützen und zum anderen die ukrainischen Streitkräfte im Donbass im Zusammenspiel mit einer Manövergruppe von der Halbinsel Krim herkommend einzuschliessen und anschliessend zu vernichten. Die ukrainischen Streitkräfte mussten diesen Umfassungsversuch vereiteln.

Problem Nr. 3: Eine weitere Manövergruppe aus dem Raum Brest in Weissrussland hätte in südlicher Richtung entlang der polnisch-ukrainischen Grenze stossen können, mit dem Ziel die Ukraine vom Nachschub aus dem Westen abzuschneiden. Wie sich schon bald herausstellte, handelte sich bei dieser Problemstellung um «Maskirovka», sprich Täuschung.

Problem Nr. 4: Von der Halbinsel Krim her stiess eine weitere russische Manövergruppe Richtung Cherson und überquerte dort den grossen Strom Dnepr mit dem operativen Ziel Mykolajiw, um anschliessend weiter in den rückwertigen ukrainischen Raum westlich des Dnepr zu stossen. Dabei würde die Masse der ukrainischen Armee eingeschlossen und aufgerieben. Daher mussten die ukrainischen Streitkräfte den Vorstoss aus Richtung Cherson auf Mykolajiw abwehren.

Der bisherige Kriegsverlauf

Wie bereits oben angedeutet, versuchten die russischen Streitkräfte in der ersten Phase die ukrainische Hauptstadt im Handstreich zusammen mit einem raschen Vorstoss, unterstützt von Luftlandetruppen, einzunehmen, um die ukrainische Regierung auszuschalten oder zumindest zu lähmen. Insbesondere im Nordwesten von Kiew auf und um den Luftstützpunkt «Antonov» bei Hostomel fanden schwere Gefechte statt. Es gelang den Ukrainern eine Anzahl russischer Helikopter abzuschiessen und mittels Geländeüberflutungen den Vorstoss der russischen Bodenkräfte aufzuhalten. Die Bilder der langen Kolonne nördlich von Kiew mit russischem Militärgerät ist uns in Erinnerung geblieben. Somit brach der russische «Enthauptungsschlag» in sich zusammen und die russischen Streitkräfte mussten sich anfangs April zurückziehen.

Nun versuchten die Russen mit einer Umgruppierung ihrer Kräfte und einer Schwergewichtsverlagerung aus dem Norden in den Osten den Donbas zu erobern. Dort waren aber die ukrainischen Streitkräfte seit langem auf eine mögliche russische Offensive vorbereitet und stationierten dort schlagkräftige Truppen. Mittlerweile gelangten auch schwere Waffen aus dem Westen in die Ukraine. Dies unter anderem auch als Reaktion auf entdeckte russische Kriegsverbrechen nach dem Rückzug im Norden. Ein erbitterter Kampf entbrannte um die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer. Nach wochenlangen Kämpfen und massivsten Bombardierungen mussten die ukrainischen Verteidiger Ende Mai die Stadt aufgeben. Den russischen Streitkräften gelang aber weiterhin kein entscheidender Durchbruch an der Donbass Front, worauf nun auch vermehrt russische Luftangriffe auf zivile Infrastrukturziele in der ganzen Ukraine durchgeführt wurden. Die Ukraine verlangte immer mehr Systeme aus dem Westen zur bodengestützten Luftverteidigung. Mittlerweile hatte Russland die ukrainischen Regionen Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson annektiert.

Mittels eines Täuschungsmanövers gelang Ende Sommer der Ukraine ein grosser Erfolg in Form einer Gegenoffensive im Raum Charkiw. Seit Wochen gab es Gerüchte über eine bevorstehende ukrainische Offensive im Süden des Landes. Russland hatte etliche Truppen aus dem Osten in den Süden verlegt, doch plötzlich griff die ukrainische Armee im Osten an. Nach dem Durchbruch bei Balaklija konnten die ukrainischen Streitkräfte, die dort ausgedünnten Truppen über den Fluss Oskil werfen. Darauf gelang am 11. November den Ukrainern mit der Rückeroberung Chersons am südlichen Dnepr ein weiterer Erfolg. Die russischen Streitkräfte – rund 30 000 Mann – mussten sich über den Dnepr in südlicher Richtung absetzen. Die russische Absicht, die Ukraine zu einem Binnenland zu machen war gescheitert.

Mit der Lieferung von Langstreckendrohnen aus dem Iran begann Mitte September eine systematische Zerstörung der ukrainischen Stromversorgung. Dabei kamen weiterhin Marschflugkörper und vereinzelt auch ballistische Lenkwaffen zum Einsatz. Das Ziel des russischen Regimes war es, die ukrainische Bevölkerung zu zermürben. Die Ukraine schlug ebenfalls mit Langstreckendrohnen auf Bomberflugzeugbasen tief im russischen Territorium zurück.

Mit dem Einbruch des Winters kam es zu einer Art Pattsituation. Die Bilder, welche uns von der Front aus dem Raum Bachmut im Donbass erreichten, erinnern an den Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918, obwohl dieser Krieg mit modernsten Mitteln wie Raketenartillerie und Drohnen ausgefochten wurde. Um die hohen Verluste an Truppen auszugleichen, begann die russische Regierung mit einer grossangelegten Mobilisierungswelle. Die neuen mobilisierten Truppen sollten die über 700 km lange Frontlinie stabilisieren und örtlich weitere Offensiven vor allem im Donbas durchführen.

Es wird davon ausgegangen, dass die Ukraine im Verlaufe des Winters oder zu Beginn des Frühlings eine weitere Gegenoffensive im Süden starten wird, mit dem Ziel, weiteres, von den Russen besetztes Territorium zurückzuerobern.

Die Geschichte lehrt uns, dass Waffenstillstandsverhandlungen erst dann aufgenommen werden, wenn beide Seiten eine Fortführung der Kampfhandlungen für sinnlos beurteilen. Von diesem Punkt aus, scheinen aus heutiger Sicht sowohl Russland, wie auch die Ukraine noch weit entfernt zu sein.

Text und Karte: Beat Benz