-10.05.2023-
Über Nacht hatte es ausgiebig geschneit. Es weihnachtete. Frau Nessler, unsere Schlummermutter, schmückte in meinem Zimmer einen kleinen Christbaum. Auf dem Standlaufplatz röhrte einsam ein Venom vor sich hin und eine Alouette zauberte Staubfontänen in den Pulverschnee. Es herrschte Weihnachtspause, Ende Feuer und für den Rest der Woche waren nur noch administrative Arbeiten in irgendeinem der hundert Büros oder Schwitzen in der hauseigenen Sauna angesagt.
Heilig Abend fiel auf einen Samstag. Wir feierten «en famille», auf dem Hügeli, in Wilen bei Wil, wie immer. Mama hatte den Kachelofen mit Reisigbuscheln befeuert und mit den Mädchen einen schönen, im Wuhrenholz geschnittenen Baum, geschmückt. Sie spielte und sang am Klavier, während Annelies und Tina sie auf der Blockflöte begleiteten und wir Männer mitbrummten. Was waren wir doch für eine wunderbare Familie, die wie jede andere hoffte, dass es noch lange so bleiben möge, obzwar, nein, lassen wir das.
Trotz tiefhängender Wolkendecke setzte ich mich an einem der ersten Januarmorgen allein in das eiskalte P-2 Cockpit, gurtete mich eilig an, zog das Dach über den Kopf und startete so schnell wie möglich die zwei Sechserreihen, um zu etwas Wärme zu gelangen. Das P-2 Triebwerk war besonders heikel und neigte zu Vergaserbrand, wenn man ihm nur ein bisschen zu viel Benzin einspritzte oder mit dem Gashebel riegelte. Gab man jedoch zu wenig Sprit, starb es postwendend ab. Zunächst galt es – wie bei jedem Heckradflugzeug – einen Kopfstand zu vermeiden. Nachdem alle Handgriffe vor dem Laufenlassen gemacht worden waren, hockte der Pilot in einer ergonomisch ziemlich unmöglichen Lage auf seinem Sitz. Mit der rechten Hand hielt er den Steuerknüppel im Bauch, stand gestreckten Beines voll in die Bremspedale, griff mit der linken Hand, die andere kreuzend, zur rechten Bordwand, drückte dort mit einem Finger den elektrischen Anlasser, mit dem anderen den Zündverstärker und wechselte blitzartig mit derselben Hand wieder an die linke Bordwand, um mit dem Leistungshebel die Drehzahl abzufangen, sobald der Motor feuerte. Gelang dieses Prozedere nicht gleich beim ersten Mal, so entlud sich die Batterie in Kürze oder der Motor versoff so hoffnungslos, dass nur noch der Mechaniker, auf dem linken Flügel stehend, durch das offene Kabinendach, seinen Liebling anzukitzeln vermochte. Das Cockpit war das Konstrukt einer Ersatzteil Einkaufstour, die der Hersteller nach dem Krieg unternommen hatte. Roh, brachial, völlig konzeptlos, aber funktionierend. Weder die Steuer, noch das Ansprechverhalten des Motors waren irgendwie abgestimmt. Jede Kontrollmöglichkeit dieses «Bockes» hatte seine eigene Dynamik, was es für den Menschen nicht ganz einfach, aber nicht minder reizvoll machte. Es gab keinerlei Wärme- oder Schallisolation. Man sass buchstäblich in einer Sardinenbüchse, der ich in der Folge ein Dutzend Landungen abverlangte.
Im neuen Jahr war es mit den guten Vorsätzen nicht weit her. Ich befand mich mit der ersten Maturalektion schon arg im Rückstand und ärgerte mich über meine mangelnde Disziplin.
Mitte Jänner war ich dann beinahe «stier». Das vergnügliche Freizeitleben und das teure Auto strapazierten mein Budget. Zudem lag der Zahltag noch in weiter Ferne. Mein weisser Alfa schien ein Montagsauto zu sein. Nebst Scheibenwischermotor und Anlasser, musste bereits ein Radlager ersetzt werden. Obwohl diese Arbeiten in die Garantiezeit fielen, konnte ich den kritischen Etat auf die Dauer nicht hinnehmen.
Nach zwei Schlechtwettertagen entschloss sich die Führung, unsere Staffel per Zug nach Meiringen zu verlegen. Auch im Haslital lagen gute zehn Zentimeter Schnee. Die Kaserne war neu eingefärbt worden und sah echt frisch und appetitlich aus. Die Kantinenmädchen freuten sich an unserer Stippvisite und verwöhnten uns im Pilotenstübli wie üblich, derweil sich die übrige Belegschaft im grossen Essraum selber bedienen musste. Ich kam nicht mehr darum herum, bei Mama um einen Kredit von achtzig Franken nachzufragen. Per Express zugestellt. Nach dem Briefing des Schiessleiters über den Gebirgsschiessplatz Axalp, begab sich die Staffel zum Kartenspiel ins nahe «Rössli». Ich war zum Glück noch nie ein Spieler gewesen. Grund genug, mich heute einmal abzusondern und vor dem Schlafengehen nochmals alle Angriffe auf dem Relief gründlich durchzugehen. Die Axalp, südlich des Brienzersees, unmittelbar oberhalb des Flugplatzes gelegen, war die nicht ungefährliche Kultarena unserer Flugwaffe. Es war dort, wo sich die Flugzeuge die Nasen am nackten Fels ribbelten, was wiederum jedem Militärattaché jährlich wiederkehrend unter sein Riechorgan gerubbelt wurde. Ich wollte darauf wenigstens geistig perfekt vorbereitet sein, gute Leistungen zeigen und es auch geniessen. Seit der Fliegerschule hatte ich den Venom nämlich höchstens drei Mal geflogen. Es reichte gerade noch für Ansichtskarten an Mama und die Schlummermutter, bevor ich mich in die Mulde des Feldbetts verkroch. Petrus machte uns am nächsten Morgen schon wieder einen Strich durch die Rechnung. Die stotzigen Wände beim Wasserfall stiessen in tiefliegende Watte und wir wendeten uns einmal mehr Theorien und Selbststudien zu. Dann aber am Freitag, dem letzten Tag kam Postkartenwetter. Das Haslital zeigte sich von seiner kältesten, aber schönsten Seite. In Pelzkappen und Handschuhen bereiteten die Mechaniker unsere Jets, die Stück für Stück aus der warmen Kaverne gezogen wurden, für den Flugdienst vor. Der ganze Flugplatz, ständig am Schatten, fläzte in einem Kältesee, und wir eilten in unseren g-Anzügen und Rollkragenpullis zu den Maschinen, banden uns eilig an, um möglichst bald die Körperwärme unter dem geschlossenen Glasdächlein konservieren zu können. Ich zündete die Patrone, der «Ghost» startete normal, aber der Funk blieb tot. Gestik und Kopfschütteln meines Verbandsführers nebenan sprachen eine klare Sprache, man verstand mich nicht. Funkausfall. Während die anderen drei Schneewolken hochwirbelnd wegheulten, schloss ich den Hochdruckhahn und stieg ernüchtert aus. Die nächsten beiden Flüge verliefen dann problemlos. Ich klemmte mich an die Führermaschine, die blitzend, sagenhafte Winterlandschaft durchtrennte. Der Kanonenangriff folgte von Westen her auf einen kleinen Grat. Schüsse hatten den Schnee um das rote Ziel schon reichlich eingeschwärzt. Ich kippte einige Sekunden nach meinem Leader ab, zog mit 4g auf das Ziel hinunter, sah den Chef links vorne feuern. Knapp zwei Sekunden später schlugen die Geschosse ein und schon ballerte meine Kanone unter dem Hintern. Das Gefühl war unbeschreiblich, auch wenn mich meine Resultate noch nicht befriedigten und ich laut in die Maske fluchte. Dafür sassen die Raketen, nachdem sie sich trocken verabschiedet hatten, nahe dem roten Quadrat im senkrechten Felsband. Über alles gesehen waren nur schon die beiden Venom Flüge die Woche wert.
Wir fuhren zu dritt in meinem Wagen. Walter Spychiger, Seb Corall und ich. «Spywa» war ein feiner Kerl und, wie ich bald feststellte, ein Überflieger. Wahrscheinlich der Staffelbeste. Den bodenständigen, gut aussehenden Luzerner erachtete ich als integer, wenn auch unübersehbar ehrgeizig, was in unserer Zunft keine Schande war. Auch er war Postbeamter gewesen und mit zwei weiteren PTT-Abtrünnigen machten wir Gelben gerade einen Viertel der Staffel aus. Seb kannte ich seit der Rekrutenschule und verstand mich mit ihm ebenfalls ausgezeichnet.
Wir drei waren der Überzeugung, dass das Tanzen für künftige Offiziere professioneller aufgegleist werden sollte. Mit feuchten Händen begaben wir uns in die Runde, die sich auf dem Parkett aufstellte. Herr Corvon, eine aparte, graumelierte Erscheinung und seine attraktive Frau entsprachen vollumfänglich dem Bild, das man sich von Tänzern machte. Madame stellte uns drei, sichtlich entzückt, mit viel Vorschusslorbeeren vor, was unseren bereits vorhandenen Bammel und Leidensdruck noch verstärkte. Es hatte genügend Damen, so dass es für keinen nach einer leichten Tour aussah. Corvon instruierte zunächst den lateinamerikanischen «Cha cha cha». Lieber hätte ich mich an eine Bar gehängt, anstatt mit der netten Partnerin diese Schritte zu üben. Nun, gemeinsam kriegten wir es einigermassen hin. Aber der nächste, der Tango, der war schon heikler. Keiner von uns getraute sich, die Dame so richtig an sich zu ziehen. Dem bereitete Madame Corvon, die vollbusige Ungarin ein gründliches Ende.
«Schauen Sie, so geht das. Sie müssen die Dame ganz festhalten, packen Sie mich!» Bevor ich sie zaghaft an mich ziehen und zum ersten Schwung ausholen konnte, verhedderte ich mich in ihrem weitschwingenden Faltenjupe und schon versank mein Bein zwischen ihren Schenkeln. Ihr üppiger Busen presste sich an meine Brust und ich versuchte krampfhaft, mich auf die Tangoschritte zu konzentrieren. Nur sich ja keine Blösse geben! Wenn ich anfangs auch etwas über die enge Umarmung erschrocken war, so hatte mir Madame schonungslos und direkt die richtige Haltung des Tangos beigebracht.
Eine weitere Jännerwoche verging, ohne dass wir ein Flugzeug von innen sahen und uns anstatt die Zeit mit Theorien, Vorträgen, Sauna, Hallenbad, Höhensonne und viel Abendunterhaltung um die Ohren schlugen. Auch der Samstagmorgen war Arbeitstag und wir wurden erst gegen Mittag ins Wochenende entlassen.
Wenn nicht dieses Damoklesschwert des Maturastudiums gewesen wäre, könnte ich von einer guten, sorglosen Zeit sprechen. Ich wettete mit Igor zehn Franken darauf, dass ich nächstens beginnen würde. Er hatte bereits ein Monatspensum hinter sich. Nach acht Wochen Sturm- und Drangphase glaubte ich mein Leben wieder besser im Griff zu haben und kam vor allem regelmässiger zu genügend Schlaf. Gerade zur rechten Zeit, da sich die höheren Herren ihre Kandidaten persönlich vorknöpfen wollten.
Zunächst «Duc», alias Major Morel, Leiter der Fliegereinsatzzentrale. Duc, wie wir ihn alle nannten, löste bei einigen ambivalente Reaktionen aus. Der schlanke, charmante Romand war starker Memphis-Raucher, humorvoll und sprach leidenschaftlich gerne über Frauen. Er war immer braungebrannt und hatte seine paar grauen Haarsträhnchen stets sorgsam seitwärts gekämmt. Natürlich war dem Bonvivant meine Giulietta nicht entgangen. Er fand es super, dass er mit mir «standesgemäss» zu seinem Flugzeug fahren durfte. Dabei schwärmte er, wie er damit noch mehr Erfolg bei den Weibern hätte. Wahrscheinlich gefiel ihm meine frohe, lebenslustige Einstellung. Völlig locker bestiegen wir unsere beiden Venom. Er flog sehr sachte, jede Kurve wurde sanft eingeleitet und ja nicht zu eng gezogen. Damit war es keine Kunst, den Platz neben ihm, wie mit einer Schraubzwinge befestigt, bis zum Ausrollen zu halten. Duc war sehr angetan und lud mich zur Besprechung jovial zum Café ins Restaurant «Flugstübli» ein. Balsam für einen Grünschnabel. Ich mochte sein «Eh bien, Walser, comment-allez vous?», und er mein «Ca va, mon Major.»
Dann wollte es der nächste «Häuptling» wissen, Paul Küpfer, Captain der Staffel 11. Wie bei Duc war ich wieder Patrouilleur. Der Raum Ilanz wurde uns von der Kontrolle eben frei gegeben und ich hockte wie die Katze vor dem Mausloch in Erwartung dessen, was da kommen möge. Nur nicht abhängen, vorher ramme ich ihn, nahm ich mir fest vor. Dann ging es los, wie der Teufel. Auf 6000 Meter legte sich Küpfer auf den Rücken und stürzte sich fast senkrecht ins Vorderrheintal hinunter. Wir näherten uns der Maximalgeschwindigkeit, dann zog er mit gegen 6g auf. Mit voll geblähtem g-Anzug keuchte ich hinter seinen durchgebogenen Flügeln her, die in ihren Ablösungen sotten. Gibt einen sauberen Looping, dachte ich und war mir voll bewusst, dass ich so was im Verband noch nicht oft gemacht hatte. Ich gab mir eine Höllenmühe, der Schweiss rann, aber ich blieb festgenagelt und folgte ihm, wie ein Schatten. Er flog fein, aber sehr bestimmt und mit unglaublich viel Beschleunigung. Nach einer halben Stunde war er offensichtlich zufrieden, nickte anerkennend und hob den Daumen. Der Walser war soeben über dem Valsertal gründlich «eingefahren» worden. Noch während wir ins Weisstannental abtauchten und voll Rohr auf den Walensee zu rasten, gab er auf Welle «Bravo» den Raum an Dübendorf zurück. Wir pfiffen so tief über das Wasser, dass es keine Frage mehr war, ob ich nach unten oder oben stufen sollte und sein Venom schien mit seinen Flügeltropfen und Grenzschichtzäunen die blauen Wellen am Fuss der Churfirstenwände teilen zu wollen. Kurz vor Weesen zogen wir auf, drehten über dem Federispitz auf den Rücken und flogen danach gesittet die Homebase an. Auch diese Vorstellung war gelungen. Küpfer guckte gut gelaunt zu mir hinüber, wie ich mich klitschnass aus dem Gurtzeug wand und den Schleudersitz sicherte. Doch ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Nur drei Tage später bat er erneut zum Tango. Diesmal zu viert. Leutnant Fridolin Wick war Unterführer. Kari und ich die «Söhne». Es ging nicht gut und wir fühlten uns wie Anfänger. Küpfer flog wieder sec und baute sofort viel Beschleunigung auf, wodurch wir hinten einfach nicht mehr dran bleiben konnten, ohne das Flugzeug überzubeanspruchen. Unsere Wunden leckend setzten sich Seefelder und ich nach der Landung auf ein Bänklein, drückten unsere nassen Rücken an die warme Barackenwand und kauten die Luft mit nackten Kiefern. Man hatte uns doch noch zeigen können, dass es nach wie vor viel zu lernen gibt… und hatte recht. Nach drei strapaziösen Flügen war ich jeweils so erschöpft, dass ich nach Feierabend kaum mehr nach Hause fahren konnte.
Auf einer «Tour de Suisse» flogen wir mit Bücker sämtliche Schweizer Flugplätze an, wurden in einen wöchigen Wintergebirgskurs aufgeboten oder fuhren als Manöverschiedsrichter eine Woche lang im ungeheizten Jeep durch den Schnee. Langweilig wurde es einem nie.
Wintergebirgskurs, am Fuss des Piz Kesch; Li: Karl Seewalder Re: Walser
Meine vorläufig letzte, von bereits sieben Einschulungen im Militär begann. Der AT-16 war kurz nach dem Krieg aus Canadian-Air Force Beständen gekauft worden. Ein riesiger 9-Zylinder Sternmotor (Pratt and Whitney Wasp) mit einem Hubvolumen von 22 Litern, zog einen Rumpf mit respektablem Durchmesser hinter sich her. Die Führerkabine war ungewohnt voluminös. Man fühlte sich anfänglich fast etwas verloren unter dem klein gefensterten Treibhausdach. Sonst war die Geometrie, mit Ausnahme der etwas grösseren Flügelspannweite, ähnlich derjenigen des P-2. Ein paar Starts, ein paar Landungen, eine Prise Akrobatik, etwas Trudeln und wir waren auch für diesen, nicht ganz ungefährlichen Kahn berechtigt. Immerhin hatte er Oblt Mazzoni und Wm Richard Ullmann auf dem Gewissen. Sie stürzten bei schlechtem Wetter in der Nähe von Neu St. Johann im Toggenburg ab.
In der Karwoche begann ein abgespeckter, auf den Bücker reduzierter Basis-Fluglehrerkurs. Nach einer trockenen, aber notwendigen Theoriewoche, flog uns «Jachtflieger» Bachmann, mein ehemaliger Schulkommandant, eigenhändig am Steuer einer JU-52 nach Locarno. Die Alpennordseite war bedeckt und wir haspelten über der Wattendecke südwärts. Wie Paras hockten wir fröstelnd auf unseren Fallschirmen, die in die waschbeckengrossen Mulden der Passagiersitze passten. Durch ein Wolkenloch über Airolo sanken wir ab und wurden alsbald vom Frühling in der Leventina empfangen. Die Luft war Samt und Seide, ideal für Bücker Flugdienst. Diesmal vertauschten wir die Rollen, indem wir vorne Platz nahmen und unsere Ausbildner hinten die lernbegierigen Schüler mimten. Im Zeitraffer gingen wir durch die ganze Ausbildungspalette und versuchten die dummen, zum Teil gar gefährlichen Patzer unserer «Schüler» zu parieren, zu analysieren und nach dem Flug möglichst wirkungsvoll zu besprechen.
Zurück in Dübendorf kam einer der wenigen Tage, wo Stauffer Hannes – auch er wollte sich weiterbilden – seine Maturahefte beiseite legte und sich in den Overall stürzte. Seine wasserblauen Augen blitzten heute ganz besonders schelmisch über die gebogene Nase. Nach Morel und Küpfer nun er. Bei ihm konnte man sich erst recht keine Blösse geben. Sinnigerweise wählte er den Raum Wil, um mich durch die Mange zu drehen. Wir gaben auf der Piste 11 Vollleistung und ich schraubte mich nach dem Kopfnicken buchstäblich an seinen Flent. Kaum hatten wir das Hörnli hinter uns, begann er ganz zahm eine Kurve einzulegen, leicht sinkend zu ziehen, zog den Akkord kontinuierlich bis 6g durch. Mein Körper wurde von der Zentrifugalkraft mit satten 420 Kilos auf den Sitz gepresst und die linke Hand klebte hoffnungslos am Leistungshebel, während der Beschleunigungswarnton immer wieder ansprach und mir die Arme beinahe «abfaulten». Das alles geschah über meinem Dorf, dort wo ich einmal zur Schule ging und dessen Konturen jetzt blässlich blau, wie der Boden eines Freibades, in immer anderen Grössen irgendwo über mein Kabinendach gezogen, bald öfter von einem Grauschleier vernebelt oder von kurzen Blackouts ganz weggewischt wurden. Niemand da unten dachte nur einen Augenblick daran, dass ich gerade jetzt hier oben meinen ganzen Saft einsetzte, um von meinem Chef nicht abgehängt zu werden. Dass ich schweisstriefend und sauer meinen Zahltag verdiente. Ich gab kein Jota nach und flog so «pico pico», dass Stauffer im Augenblick, wo wir zum zehnten Mal senkrecht auf den Traktoren-Hürlimann hinunterstachen einmal entsetzt aufschrie, vor Angst, dass sich unsere «Torpedos» am Randbogen berühren könnten… und schon musste er wieder brüsk aufziehen, um die Maximalgeschwindigkeit nicht zu überschreiten, worauf wir wieder vertikal in den Himmel jaulten. Zum Glück setzte der Treibstoffvorrat der Plage ein Ende. Mit Genugtuung stellte ich auch beim Captain grosse, dunkle Schweissringe auf dem Combi fest. Nun war auch er zufrieden.
Am Mittwoch, den 12. April 1961 meldete Radio Moskau um acht Uhr in der Früh, dass die Sowjetunion den ersten Menschen in den Weltraum gesandt hatte. Wir nahmen ungläubig zur Kenntnis, dass Juri Gagarin nach einer Umrundung des Globus, eine Stunde und achtundvierzig Minuten später wieder sicher gelandet war.
Nur einen Tag darauf kollidierten die beiden «Babies» HB-497 und HB-512 meiner ehemaligen Segelfluggruppe miteinander. Ein Pilot konnte sich mit dem Schirm retten, der andere fand den Tod. Auf dem 512 hatte ich meinen ersten Alleinflug gemacht.
Es war ein schöner Tag im Wonnemonat, als Major Knebel kreideweiss den Raum betrat: «Un avion est tombé, ein Venom ist im Toggenburg abgestürzt. Seefelder, der Pilot, ist zwar abgesprungen, aber man hat ihn noch nicht gefunden.» Bestürzt warteten wir auf präzisere Nachrichten. Immerhin war klar, dass sie zu Viert unterwegs waren. Häse Sigg war Verbandsführer, Seefelder sein Patrouilleur. Endlich, gegen Dienstschluss, kam die erlösende Meldung, dass «Kari» lebend gefunden wurde und in einer Stunde mit dem Helikopter eintreffen werde.
Blass, mit ziellosem Blick und auf dem Schädel klebender Haut entstieg er der Alouette 2. Schrammen im Gesicht und ein zerfetzter Fliegerdress zeugten vom ungewöhnlichen Ende eines Einsatzes.
«Ich habe in einer 4,5 g Kurve einige Meter abgehängt, Gas gegeben und gezogen. Dann hat sich das «Blech» plötzlich aufgebäumt und ich bin in eine horizontal geschletzte Rolle gefallen, die bald in die Senkrechte übergegangen ist. Die Beschleunigung hat sich schnell weiter aufgebaut und ich konnte die Drehung trotz Knüppel im vorderen Anschlag nicht stoppen… es ist mir schwarz geworden… dann habe ich mich abgeschossen.»
Seefelder war im einsamen Neckertal am Fallschirm niedergekommen, während das Flugzeug bei Krummenau im Toggenburg drüben einschlug und glücklicherweise niemand verletzte. Ich brachte ihn zu seiner Mutter, sie war alleinstehend, nach Zürich und übernachtete dort auf dem Sofa. Gegen Morgen klagte er über heftige Schmerzen in der Bauchgegend, die wir auf den Abschuss zurückführten und dennoch brauchte ich meine ganze Überzeugungskraft, bis sich ein Notarzt des Falles annehmen wollte. Zum Glück erwiesen sich die Probleme nicht als lebensbedrohlich und mit Hilfe von Medikamenten dämmerte Seefelder wieder weg. Am nächsten Wochenende suchten wir zu dritt den Schleudersitz, buckelten ihn ins Tal hinunter und besichtigen den Krater, den der Venom in ein mit Jungwald bestandenes Tobel gerissen hatte.
«Da, ganz zu unterst würde ich jetzt liegen, total vermanscht», sagte Karl und starrte sichtlich ergriffen auf die klitzekleinen Trümmerteile im vier Meter tiefen Loch hinunter.
Wie schon erwähnt, liebte ich die JU-Fliegerei nicht sonderlich. Das hatte weniger mit dem Flugzeug, als mit der Art, wie die alte Tante von einigen Piloten geflogen wurde zu tun. Trotz des Fallschirms am Gesäss konnte ich das Gefühl der Wehrlosigkeit und Passivität in dieser Wellblechkiste nicht ausstehen. Wir tuckerten einmal mehr tief nach Payerne. Sehr tief. Die Ju-52 war nicht wolkenflugtauglich, weshalb der Mann am Steuer bei miesestem Wetter dem Boden entlang schlich und der Schirm mangels Höhe zu einem sinnlosen Utensil verkam. So hockten wir apathisch hinten drin, guckten auf das schwappende Flügelende, auf Wipfel, die Nebelschwaden ausatmeten und warteten auf die angekündigte Rückseite. Kurz nach Burgdorf klarte es auf, wir machten wieder einmal drei Kreuze und kamen milde gerüttelt nieder.
«Ideale Bedingungen für heute Abend», schrien wir einander zu. Nachtflug in der Enge eines Jägers ging jedem Piloten unter die Haut. Das schwarze Firmament bekam eine ungewohnte Nähe, war nicht mehr hinter Glas, so dass man Arktur und Orion hätte umstecken können. Auch die glimmenden, von Menschenhand gewobenen Netze, sowie die seltsamen Vexierbilder der Städte schienen die Fersen ansengen zu wollen. Finsteren Gletscherzungen gleich zwängten sich die Seebuchten in die Lichterhaufen von Zürich und Luzern. In dieser lebensfeindlichen Sphäre sass ich an trügerischer Wärme, hinter mattrot beleuchteten Instrumenten, zog kühlen Sauerstoff ein und streckte die Flügel in eine mondlose Nacht. Nachdem alle Jets wieder sicher am Boden waren, gönnten wir uns ein Bier im «Central». Seit dem Ritterschlag kannte man uns dort namentlich. Unser Kurs war synchron zu Status und Konsumation gestiegen.
Wieder lefzten am Freitag die Wolken tief. Trotzdem wollte Hannes in «Le Crêt», nördlich Lausanne, taktisch angreifen. Ich war als «due Sohn», der Hinterste also, in seinem Verband. Auf dem Weg ins Zielgebiet scheuerten wir einmal mehr die Flent am Gelände, so schlecht war das Wetter, zogen auf und warfen Bomben im Doppelpack. Ich sah die ersten blauen Rauchpaare ins Riet fingern und alle lang einschlagen, worauf ich etwas kürzer hielt. «Ziel» quittierte der Schiessleiter lakonisch. War es auch ein netter Zufall und war ich auch als Hinterbänkler in einer guten Ausgangslage, es freute mich dennoch. Piloten sind ehrgeizig, müssen es sein, da war ich keine Ausnahme. Am Nachmittag fuhren wir gut gelaunt per Bahn nach Dübendorf, dem freien Wochenende und meinem fiebrig erwarteten Urlaub entgegen. Schon am Sonntag wollten Papa und ich gemeinsam nach Venedig aufbrechen.
Karl Seefelder in der Fliegerschule
Nach seinem Absprung war Seefelders Selbstvertrauen in jeder Beziehung angeknackst. Die Staffel 16 versuchte ihn behutsam aufzubauen und fliegerisch wieder einzugliedern. Doch Fliegen ist unverzeihlich und deckt erbarmungslos auf, woran man krankt. Schon kurz nach dem Start war es auch für mich klar, dass es noch seine Zeit brauchte. Seefelder flog nervös, war überall und nirgends und damit nicht der heiss gewünschte Patrouilleur. Am Greifensee schoss er zweimal auf das falsche Ziel.
«Gopferdammi, Seefelder, das ist eine Riesensauerei. Das nächste Mal jage ich sie zum Teufel!», tobte der Schiessleiter am Funk und stauchte ihn damit noch mehr in die Cockpitecke.
Igor Tenning und ich bildeten für ihn Zielflugzeuge während einer Basis-Luftkampfübung. Kari stach aus tausend Meter Überhöhung auf uns nieder, visierte mit dem Kreisel und bannte das ganze auf Film, während Igor und ich umgedreht in den Gurten hingen und am Kopfpolster des Schleudersitzes vorbei den Angreifer zu erspähen versuchten. Es war uns nicht geheuer, obwohl wir gestern in der gleichen Zusammensetzung mit ihm eine sanfte Vorübung geflogen hatten. Er war und blieb unberechenbar. Dann sah ich ihn, als glitzerndes Pünktchen im Dunkelblau von aussen auf die Kreisinnenseite hinunter stechen, eindeutig zu früh, mit viel zu viel Vorhalt. Der Winkel wurde stumpf. Das geht nie auf, das kommt nicht gut und schon donnerte der Venom mit durchgebogenen Schwingen keine zwanzig Meter hinter mir durch. Nach zwei weiteren kritischen Situationen brachen wir ab. Seefelder kam auf dem Vorfeld noch zombiehafter als früher auf uns zu, hockte noch bleicher am Tisch, als ihm Igor die Leviten las. Es machte keinen Sinn mehr, Karl war psychisch klar nicht flugbereit. Die ganze Situation beschäftigte uns sehr und wir alle rangen um eine zweckmässige, möglichst sichere Lösung. Einerseits sollte ein Pilot nach einem so gravierenden Unfall sobald wie möglich wieder ins Flugzeug gesetzt werden, um Selbstvertrauen aufbauen zu können, andrerseits bedingte das genügend psychische Stabilität. Ob Seefelder diesen Spagat schaffen würde? Ich nahm ihn für die nächste Zeit auf jeden Fall etwas mehr zur Brust. Wir gingen öfter miteinander aus, um von seinem traumatischen Erlebnis abzulenken und ich hörte mir dabei zum x-ten Mal geduldig den Unfallablauf an: «…nachdem es mich überschlagen hatte, raste ich etwa 10 Sekunden lang in einer vertikalen Spirale oder einem ähnlichen Flugzustand mit mehr als 600 km/h und einer Beschleunigung von über 5,5 g dem Appenzellerland zu. Trotz Schwarzsehen versuchte ich, die Drehbewegung zu stoppen. Meine Gegenmassnahmen fruchteten nichts, worauf ich mich entschloss, den Venom aufzugeben. Nach mehreren Versuchen, den oberen Auslösegriff zu erreichen, gelang es mir wegen der hohen Zentrifugalkraft endlich – wie in der Theorie gelernt – mit der linken Hand die Rechte hoch zu drücken und die Schlaufe vor das Gesicht zu ziehen. Ich war nicht erstaunt, dass ich erst nach mehreren Reissversuchen, etwa tausend Meter über den Hügeln, gefühlsmässig langsam aus dem Cockpit gehoben wurde. Die Wucht des Fahrtwindes und der plötzliche Lärm waren brutal. Es brauste, wie wenn ein Wasserstrahl an eine Wand prallt und ich glaubte tatsächlich, dass mir jemand mit dem Feuerwehrschlauch ins Gesicht spritzte, indessen mein flatternder Overall Maschinengewehrsalven von sich gab. Der Blackout wandelte sich schlagartig in Rotsehen. Mein Gleichgewicht war völlig gestört und ich hatte das Gefühl, dass es mich furchtbar herumwirbelte. Urplötzlich wurden meine Arme, die sich immer noch an den Auslösegriff krallten nach oben gerissen, ich wurde vom Sitz getrennt und in diesem Augenblick spürte ich den Öffnungsstoss. Nicht hart, aber bestimmt, wie wenn ich jemandem in die Arme gesprungen wäre. Ein sanfter Hauch und eine tiefe Stille umfingen mich. Ich glaubte wieder an eine Rettung, schaute nach oben in die Kalotte und erlebte einen neuen Schreck. Statt in einen rotweissen Schirm, wie erwartet, guckte ich in einen schneeweissen Dom. Ist dies echt oder Halluzination? Erst nachdem ich an den straffen Leinen gezogen hatte, glaubte ich langsam an die Realität. Immer noch meinte ich jedoch kopfvoran zu fallen. Dann tauchte ich in eine Wolke ein. Ich redete mir pausenlos zu, dass dort in der Seide oben und bei den Füssen unten sei. Zwanzig Sekunden später erschienen zwischen den Schuhen wieder Wiesen und Wälder. Wo ist mein Flugzeug? Ich sah nirgendswo Rauch oder Feuer. Hoffentlich ist niemand verletzt oder gar getötet worden! Die feuchte, frische Luft erweckte mich wieder zum Leben. Ich bewegte mich, alles funktionierte. Nur auf der rechten Achsel klaffte ein faustgrosses Loch im Kombi. Es war genau 15.37 Uhr. Den Splitter, der vom Helmvisier noch übrig geblieben war, brach ich weg, damit er mich bei der nächstens kommenden Landung nicht verletzen konnte. Während ich satt im Gurtzeug hing und mich zusehends sicherer fühlte, begann ich Arme und Beine zu schütteln. In diesem Augenblick erkannte ich einen Venom, der in einer Kurve auf mich zusteuerte. Das Flugzeug quittierte mein Winken und Zappeln mit Flügelschwenken, was ich wiederum erleichtert aufnahm. Sie wussten jetzt wenigstens, wo ich war. Während mich das Flugzeug immer noch umkreiste – es war Sigg, mein Führer – zog ich an den Leinen, um mich frontal gegen den Hang zu drehen. Nächstens würde ich aufsetzen. Ich erkannte Steine. Kugeln verwandelten sich zu Bäumchen. Ich sah Laub, brachte mich in Landeposition. Es knackte. Ein weicher, dann ein harter Schlag und die Erde hatte mich wieder. Ich kroch aus dem Gehölz und gab den beiden Venoms Zeichen. Der Fallschirm war so in eine Tanne verheddert, dass ich ihn mit der Notiz zurückliess: «Ich steige unverletzt ins Tal». Erst nach eineinhalb Stunden, nach schwerem Marsch durch Dickicht, über Fels und einem Bach entlang, stiess ich auf die ersten Menschen. Die beiden Holzfäller starrten mich entgeistert an und wiesen mir den Weg zum nächsten Telefon, das ich in nur fünf Minuten erreichte und mich von dort aus in Dübendorf zurückmelden konnte. Ab diesem Punkt kennst du die Geschichte ja…»
Karl Seefelder (Pseudonym) hat sein Leben lang unter diesem Unfall gelitten. Er ist am 13. Oktober 2021 in Thusis verstorben.
Text: Werner Alex Walser Fotos: Werner Alex Walser
Anmerkungen zum Autor:
Werner Alex Walser absolvierte nach einer Ausbildung zum Postbeamten im Jahre 1960 die Militärfliegerschule. Danach war er fünf Jahre als Berufsmilitärpilot im Ueberwachungsgeschwader UeG tätig. Anschliessend wechselte er zur SWISSAIR, wo er als MD-11-Captain 1996 pensioniert wurde. Er veröffentlichte zwei autobiografische Bücher über seine Pilotenkarriere, «Eden und Kerosin», sowie «Feldgrau und Swissairblau». Nach mehreren Romanen ohne fliegerische Inhalte folgte das Buch «Pilotenseele», wo er nochmals zu seinen militärfliegerischen Wurzeln zurückkehrte. Sein bisher letztes Werk trägt den Titel «Horizontlos».