-18.10.2023-

Sandkasten, Fledermaus und anderes mehr

Staffelkommandant Hannes Stauffer hatte immer wieder unkonventionelle Inspirationen, wie das Fechten, als Beispiel, das für uns Piloten in vielerlei Hinsicht ausgesprochen förderlich sein sollte, aber wieder verdampfte, wie es gekommen war. Er brachte seine Eingebungen so visionär und überzeugend hinüber, dass es bereits Religion wurde, bevor wir mit der Umsetzung begonnen hatten. Dabei bildete sich um sein sanftes Mondgesicht schon fast ein Halo.

Die Einsatzdoktrin unserer Flugwaffe favorisierte zu jener Zeit den Erdkampf. Das war schon aus den zwei mickrigen, reglementierten Luftkampfübungen ersichtlich. Im ersten Fall flog das Ziel schlicht und einfach geradeaus, im zweiten machte es eine weite Kurve. Den Angriff abzuwehren war nicht erlaubt. Feindliche Jäger hätten uns damals im ‘dogfight’, wie faule Pflaumen vom Himmel geholt.
Erst die Hunter-Piloten entwickelten, zuerst noch unter der Hand, realistischere Angriffs- und Verteidigungsmethoden. Für uns Erdkämpfer bildeten, nebst den Jägern, vor allem die auf uns gerichteten Flab-Geschütze die grösste Gefahr. Die in Oerlikon ansässige Industrie pries – zu unserem Schrecken – neue, radargesteuerte Zwillingskanonen mit beispiellos hoher Kadenz an. Die Zielerfassung dieser revolutionären Waffe soll so früh und präzis sein, dass die Flugzeuge, weit bevor sie die eigenen Mittel einsetzen können, abgeschossen werden, sagte man. Die Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken waren sehr beschränkt. Man konnte zum Beispiel mit geballter Kraft, also mit vielen Flugzeugen gleichzeitig, aus dem Tiefstflug heraus angreifen, um das Abwehrsystem zu übersättigen und zusätzlich, wie beim Skifahren «Wedeln». Nur nicht lange geradeaus fliegen, was ihre Zielerfassung erschwerte, aber auch die unsere. Vor diesem Hintergrund muss man die nachfolgenden Versuche sehen, die man sich schon zehn Jahre später kaum mehr vorstellen konnte.
Unser Hauptmann zog aus diesen Erkenntnissen die Konsequenz, künftig vermehrt die ganze Staffel einzusetzen, so wie man es bisher höchstens für Defilées tat. Über zwölf Flugzeuge für einen Angriff in die Luft zu bringen war gar nicht so einfach. Das begann schon bei der technischen Bereitstellung am Boden. Doch der zielstrebige Häuptling brachte das selbst im geschäftigen Dübendorf fertig. Dann durfte das Start- und Besammlungsprozedere nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, andernfalls waren die Tanks leer, bevor wir uns im Einsatzgebiet befanden. Wir begannen damit, Viererverbände, sogenannte Doppelpatrouillen an Doppelpatrouillen zu hängen und mit diesem «Riesenfladen» auf Reisen zu gehen. Auch das war für die einzelnen Unterführer nicht unproblematisch, vor allem im Tiefstflug und bei schlechter Sicht, wo man bald einmal das andere Ende des Rochen aus den Augen verlor. Stauffer legte fast täglich, über Wochen, einen solchen Megaeinsatz auf und wir lernten uns in Verbänden von vierzehn bis achtzehn Flugzeugen zu bewegen. Wir ackerten unglaublich tief in der Ostschweiz herum. Meist unter hundert Meter Grund, wobei Erinnerungen wie Wetterleuchten aufloderten und schon war das nostalgische Geflacker vorbei. Keine Zeit, um sich im Jetstübchen zu plustern, nur keine Kollision mit einem von uns oder gar gegen die Erdrinde anrennen. Davon hatte ich eh noch die Nase voll. Erst gerade konnte ich als «Sohn» in den Hügeln vor Lausanne im letzten Moment einem Tannenwipfel ausweichen, den ein Nebelfetzen freigab.
Logisch, dass kein Feind einen so grossen Verband ungestraft die todbringende Fracht ins Zielgebiet bringen liess. Ebenso logisch mussten wir die Attacken von Jägern parieren können, ohne dass unser Verein auseinanderfiel. Während die Führer primär navigierten, waren wir Unterhunde beauftragt, die hinteren Sektoren lückenlos zu überwachen. Das hiess nichts anderes, als Schultergurten lösen und pausenlos den Kopf verdrehen, um die gegenüberliegenden Verbände zu sichern. Dadurch bekamen wir den sensiblen Luftraum hinter dem Pulk erstaunlich gut in Griff. Um sich nicht zu verraten, wurde am Funk bis kurz vor Feuerdistanz des angreifenden Jägers nichts gesprochen. So glitt unsere Manta vom Wiler Plateau ins Thurland hinunter. Ich war links aussen. Da, plötzlich, da war doch was in den dunkel gesprenkelten Toggenburger Hügeln. Meine Augen wechselten Fokus und Richtung, versuchten die Nadel im Heuhaufen zu entdecken. Jetzt, jawohl, da sind sie… zwei Hunter in ihren Tarnanzügen, die ein Lamm aus unserer Herde reissen wollen. Sie näherten sich mit grosser Übergeschwindigkeit. Mein Unterführer nebenan wurde unruhig, schien sie ebenfalls entdeckt zu haben… und schon, auf etwa drei Kilometern, schrie er «Alarme rera». Stauffer zog scharf rechts hoch, fuhr zusätzlich die Luftbremsen aus, wodurch das Tempo zügig ab- und die Winkelgeschwindigkeit rasch aufgebaut wurde. So zog die ganze Musik schräg nach oben… gut, die Angreifer kamen diesmal zu stumpf… schlüpften durch unseren Strich und mussten aufpassen, nicht plötzlich selber vor die Flinte eines Unterverbandes zu geraten. Diesmal hatten Timing und Abwehr gut gespielt, aber wie sah das mit TNT an Bord aus? Zu diesem Zweck stand ein Venom für längere Zeit, mit zwei 400 kg Bomben beladen, in Dübendorf bereit. Auf sogenannten «Volllastflügen» konnten wir uns an sein trägeres Verhalten gewöhnen.
Die Erdangriffe im Staffelverband erforderten von allen eine noch präzisere Vorbereitung des Anflug- und Zielgebietes. Die Aufgleisung musste äusserst genau erfolgen, um grosse Richtungsänderungen im Endanflug und damit eine Unruhe im Verband zu vermeiden. Distanzen, Höhen, Navigationskurse, vor allem visuelle Merkmale entnahmen wir unseren Karten oder Fotos von Aufklärern und versuchten uns das Gelände so gut, wie möglich vor Augen zu zwingen.
Stauffer hatte dazu eine neue Idee: Der Sandkasten. Was terrestrischen Truppen recht war, sollte auch für uns gut sein. Er bestellte in der Betriebsschreinerei eine zweimalzwei Meter Kiste, die wir mit Sand füllten, um dann in stundenlanger Sisyphusarbeit das Terrain im Zielgebiet zu modellieren. So bestechend die Idee auf dem Papier, so wenig brachte sie im Verhältnis zum Zeitaufwand. Einerseits fehlte uns jungen Löwen die Geduld, mit Spachteln, Schäufelchen und selbst gebastelten Pantographen das Gelände massstabsgetreu hinzupäppeln und andrerseits brachte diese braune Dünenlandschaft zu wenig bleibende Referenzen. Jedenfalls sändelten wir, trotz UeG-Gespött, während Wochen vor uns hin und wetterten, wenn ein Kamel an den Kasten stiess oder uns über Mittag Lollos römische Hügel in den Anflug gejubelt hatte.
Jeder litt irgendwann unter dem «UeG-Tripper». Das hatte nichts mit dem Zebedäus, sondern, vor allem im Sommer, viel mit Transpiration zu tun. Zwischen den Oberschenkeln machte einem eine Art «Wolf» längere Zeit zu schaffen. Auch mir. Die Situation hatte sich nach dem Verpassen der neuen Beschleunigungsanzüge merklich gebessert. Dieser komische Scherenschnitt, ein Zwitter zwischen Hüftgürtel und Krampfadern-Stützstrumpf, war neu beschafft worden und ersetzte die Ganzkörper Anzüge. Das Konstrukt wurde über das graue, baumwollene Sommercombinaison getragen, das nach spätestens vierzehn Tagen wieder in die Wäsche ging. Mit diesem «Cutaway» glichen wir alten Kriegern, bei denen die Rüstung an Gelenken und anderen empfindlichen Stellen ausgeschnitten oder durch flexibleres Material ersetzt worden war.

Neuer g-Anzug über grauer  Sommer Combi

Nach Einsätzen hängte ich öfter, wie heute, noch ein Akroprogramm über Dübendorf an, bis die Petrolreststand-Warnung zur Landung aufforderte. Eng, mit viel g und perfekter Achs- und Platzhaltung. Die Maschine zeigte ihre Grenzen durch unwilliges Schütteln und Knurren an, was man fein parierte. Wir waren eins, mein Venom und ich. Ich hatte eine unglaubliche Fertigkeit und eine tiefe Vertrautheit zu diesem Hengst gewonnen, ohne zu vergessen, dass er mich unverzüglich abwerfen, nein umbringen würde, wenn ich einen gravierenden Fehler beginge. Diese Symbiose war einmalig und erzeugte hochgradige Glücksgefühle. Nach jener Landung nahm ich mit besonderer Verzückung die Anerkennung Oberst Bachmanns, meines ehemaligen Fliegerschul Kommandanten, entgegen. Er, der mich damals im Meiringer ‘Affenwald’ einsperren liess, hatte meine nicht zu überhörende Kür rein zufällig vom Turm aus mitverfolgt.

Jetzt, im Hochsommer verbanden wir die Mittagspause meist mit einem Sprung ins Wasser. Auch im Dübendorfer Schwimmbad, dem Treffpunkt der Pilotenfrauen, war man en famille. Gerade hier und ausgerechnet bei den Damen, erlebte ich die sympathischste Form von Fliegerkameradschaft. In dieser verschworenen Runde schien der latente Futterneid, geschürt durch Grad- und Einkommensgefälle ihrer Männer, nicht zu existieren. Hier war klar ersichtlich, dass es Wichtigeres gab, als ein paar Fränkli mehr oder weniger im Monat. Nämlich das Glück, immer noch in einer intakten, unamputierten Familiengemeinschaft leben zu dürfen. Es beeindruckte mich, wie Pilotenwitwen und ihre Kinder fürsorglich und völlig natürlich eingebettet waren. Tildy Fasler und ihre Töchter zum Beispiel. Der Familienvater war vor Jahren mit einem Venom in Ambri tödlich verunglückt. Ich lernte auch Witwe Brüllhardt kennen: ihr einziger Sohn war vergangenes Jahr abgestürzt. Dann die quirlige Frau Kolb und andere arrivierte oder jüngere Damen, deren Männer immer noch täglich in den Helikopter oder sonst eine fliegende Kiste stiegen, während sie im Sandkasten spielende Kinder überwachten. Ich fühlte mich hier ausserordentlich wohl, wie kaum mehr später und wurde als «soweit gut erzogener Playboy» nicht ungern etwas unter die Fittiche genommen. Wir Burschen waren ja noch kaum der Pubertät entwachsen und konnten uns nicht genug an den neumodischen, zweiteiligen Badeanzügen erfreuen, die wie gewünscht anatomisch einschlugen. Die Modeschöpfer dieser Zweiteiler drehten den wirklichen Namen in eine andere Realität. Noch vor kurzem testeten die USA, auf dem verträumten Bikini Atoll im Südpazifik und auf dem benachbarten Eniwetok, während über sechzig Atombombentests ihre schrecklichen Nuklearwaffen.

Enge Bindungen pflegten wir auch mit Mechanikern und Fluglotsen, mit denen wir beim Bier oft fachsimpelten, dieses oder jenes Vorkommnis auf gleicher Stufe besprachen, vor allem aber die Freude an unserem Tun teilten. Das UeG-Leben war meist wechselvoll und mit Überraschungen gespickt, die sich manchmal förmlich jagten.

Schon in der folgenden Woche begann der Fluglehrerkurs 2. Diese Ausbildung zum Jetinstruktor verlief nach bekanntem Grundmuster und mein Coach hiess Kurt Handelsmann. Eine zähe Nebelsauce lag über der Alpennordseite, was die Leitung veranlasste, die ganze Schule mit zehn Vampire DH-115 nach Sion zu dislozieren.

Vampire DH-115

Kurt spielte auf dem linken Schleudersitz «Schüler», indessen ich nebenan seine «Leistungen» mit Argusaugen beobachte. Bereits über dem Greifensee verschluckte uns eine tief liegende Wolkendecke, um uns – fluff – kurz vor Luzern wieder auszuspucken. Innert einem Sekundenbruchteil wich das Milchglas atemberaubendem Alpengepränge und entlockte uns einen Jauchzer in die Maske. Flug um Flug türkten wir in der Folge die ganze Operationspalette durch: Akro, Vrillen, Notlandeübungen auf schwierige Gebirgsflugplätze, wie Saanen oder Sankt Stephan im oberen Simmental zum Beispiel, wo die in der Matten gelegene Piste erst im Endanflug hinter der Bergrippe auftauchte. Wie Rodeoreiter warfen wir den Doppelsitzer in sicherer Höhe aus allen Lagen auf den Rücken, liessen ihn taumeln, Korken ziehen und Pirouetten schletzen und landeten anschliessend ohne Auftriebshilfen, mit einem Affenzahn, auf einem Asphaltriemen, irgendwo. Es war spannend und anspruchsvoll, die ganze Bandbreite auszuloten und ich bekam ein abgeteuftes Vertrauen in die Maschine. Am späten Nachmittag trafen alle zehn im fünf Minuten Abstand auf 3500 m/M über dem Pilatus ein und wurden vom Dübendorfer Radar via Zürcher Oberland heruntergesprochen. Grelle Lampen erschienen im «Opalglas» und kurz darauf sassen wir wieder im heimischen Mief und begaben uns nach Feierabend ins «Stratosphärenstübli». Fast tupfengleich ging es weiter: Tagesstützpunkt Sitten, gefolgt von einem Instrumentenanflug zuhause. Mit knapp zweiundzwanzig Jahren wurden wir nach zwei Kurswochen in die Gilde der Jetfluglehrer aufgenommen und konnten als Allrounder fast überall eingesetzt werden. Die nächsten Hürden waren nur noch Offiziersschule und Umschulung auf den Hawker Hunter.

Ende November fanden die Feierlichkeiten zum zwanzigjährigen Jubiläum des Überwachungsgeschwaders statt. Schon am frühen Nachmittag herrschte eine festlich gespannte Stimmung und je ranghöher, je nervöser hetzte man im Atrium des ehemaligen Flughafen Terminals umher. Punkt 16 Uhr versammelte sich das Geschwader in corpore vor dem Fliegerdenkmal. Hohe Militärs und zivile Prominenz gaben sich die Ehre. Grabesstille herrschte während der Ansprache des Feldpredigers, die Schweizer Fahne wurde unter Fanfarenklängen vor den Steinadler getragen und man verlas die Namen aller siebenunddreissig verstorbenen Kameraden. Dem Ehrenwein, in den Räumen des UeG-Hauses kredenzt, wurde herzhaft entsprochen. Gut gelaunt amtierte ich als einer der Kellner und versuchte speziell die Weiblichkeit aufmerksam zu bedienen. Es redeten Primault, Frei und Knebel. Um halb acht war grosse Ankunft im «Waldhaus Dolder». Festlich gekleidete Damen, Zivilisten im Smoking und Offiziere in weissen Hemden. Wie riesige Petticoats hingen Fallschirme über den runden Tischen. Ich war ohne Begleitung gekommen. Nach dem Essen amtete ich im Smoking mit Fliege als Croupier an einem Spieltisch. Bis in den frühen Morgen war ich so konzentriert und ausgelastet, dass ich mich plötzlich einsam und verlassen am grünen Tisch wiederfand. Im Hauptbahnhof löffelte ich eine Mehlsuppe. Mutterseelen allein.

All die vielen Staffel- und Tiefflüge schienen endlich Sinn zu machen. Nach einem völlig verpennten Wochenende galt es Ernst: Taktische Übung «Fledermaus». Irgendwo im Thurgau sollten wir Ziele in einem grossen Riet bekämpfen. Neu war nur, dass die grauen Stofflastwagen und getarnten Kartonpanzer bewacht waren. Diesmal nicht mehr «nur» von 20 mm, von Hand geführter Fliegerabwehr, sondern von einer «Fledermaus» samt den neuesten radargesteuerten 35 mm Zwillingskanonen. Mit einer Rohrkadenz von 550 Schuss pro Minute würden uns im Ernstfall ganze Eisenstangen von Explosivgeschossen erwarten. Eine Batterie bestand aus der Radareinheit und zwei Geschützen, à zwei Rohren. Wir hatten das Gelände in den Sandkasten modelliert und aus allen Perspektiven hundert Mal beaugapfelt, um aus dem Tiefstflug mit möglichst wenig eigenen Verlusten angreifen zu können. Der erste Einsatz erfolgte vierspännig. Die Ziele lagen in einem grossen, mit viel Wald bestückten Hochmoor, östlich von Zihlschlacht, zwischen Bischofszell und Amriswil gelegen. «Hudelmoos», 515.5 Meter über Meer. Sobald Zielgelände und Anflugachse bekannt waren, rief ich zu Hause an. Beim Überflug unseres Bauerngehöfts, dem ‘Hügeli’, würde ich einen Flügelschlag geben, «viel Vergnügen wünsche ich», gab ich durch. Wir verliessen die Dübendorfer Flugplatzzone in der Gegend des Bichelsees und sanken kurz vor Wil auf eine taktische Höhe von 50 Metern über Grund ab. Das alles mit satten siebenhundert Sachen. Mensch, muss das jetzt aussehen… kurzes Wippen, gerade so, dass mein Kollege gegenüber nicht unruhig wurde. Hans Kummer führte unsere Quadriga, ich war Sohn im Unterverband. Mit kleinen Schneeballwölkchen über dem Kopf, duckten wir uns ins Thurtal, um ja nicht vom feindlichen Radar erfasst zu werden.
Kurz nach Bischofszell ziehen die ersten beiden hoch. Dann folgen mein Führer und ich für einen flachen Angriff mit Napalmbomben. Wir lösen uns vom schützenden Gelände. Der Puls steigt synchron zum Aufzugwinkel… wir sperbern: Herrgott, ein Wolkenfetzen, wir durchstechen ihn, wo ist das Hudelmoos?, da… der zerstückelte Wald, die Ziele… zu spät… wir sind schon zu nah… sollten längst beigedreht haben, können so die «Eier» nicht im Verband abstreifen. Es reicht gerade noch für eine kurze Kanonengarbe. Dunkler Torf spritzt hoch, abflachen, nicht steigen, sofort mit Wedeln beginnen und hinter dem Wald verschwinden, um von den Flabzwillingen nicht abgeschossen zu werden. Schocherswil, Biessenhofen, Amriswil, wie im Gefecht. Wir wehren uns, wie die Verrückten. Dann, neue Bereitstellung und nach dem Mittag bereits dasselbe im Achterverband, jedes Mal aus und nach anderen Richtungen. Nur wieder weg. Wie der Teufel. Wir schleichen auf hundert Meter Grund mitten über der Stadt Sankt Gallen an und degagieren auf weniger als dreissig Meter Richtung Wil. Kirchenkreuze fetzen auf Augenhöhe vorbei. Wir sind im Kampffieber und wollen es gründlich wissen, die Gelegenheit, die Sau raus zu lassen und dennoch wäre jeder Vierte von uns abgeschossen worden.
Am Abend war ich geschafft und ging früh zu Bett. Ich brauchte einen total klaren Kopf, die Sache war mir zu riskant. Vater hatte von zuhause aus das Spektakel schon gestern begeistert beobachtet und wird auch heute wieder auf die Rechnung kommen, während Mama, wie üblich dem Getue wenig Freudvolles abgewinnen kann. Diesmal waren wir zwei Viererverbände und ich flog ganz rechts aussen. Sacktief. Aadorf, Sirnach, mitten über die TV-Antenne des Hügeli, während unser linker Flügel im «Rasemottes», so nannten wir den extremen Tiefflug, Wil überfegte, dann in die Thurau abglitt. Was für ein packender Anblick. Führer und Unterführer waren am tiefsten, wir Söhne leicht nach oben gestuft. Funkelndes Blech in der Morgensonne. Es war kurz nach Zuzwil, ich stellte für den Bombenabwurf scharf, guckte auf den linken Verband, einen Augenblick nur, da… ein Blitz… Funken… Lichtbogen… ein Venom löste sich… stieg aus dem Grün… eine feine, weisse Dampffahne hinter sich herziehend.
«Möglicherweise habe ich eine Hochspannungsleitung erwischt», meldete einer knapp am Funk und mir war rasch klar, dass es Zeno, unser Leader war. Seine Maschine war offenbar noch flugtauglich, einzig die Windschutzscheibe sei schlierig verschmiert und es mache mehr Lärm. Er drehte mit seinem Sohn sofort Richtung Dübendorf ab. Da es nicht nach Absprung aussah, versuchte der Rest die Mission so gut, wie möglich weiterzuführen. Wir waren wieder zu zweit in einem Napalmangriff. Die Bomben gingen gerade weg, als ich Schüsse hörte. Laut und deutlich. Um Haaresbreite hätte mich mein Kollege hinter mir abgeschossen… echt… mit 20 mm Munition, ohne Sprengsatz zwar. Aber immerhin. Nun, heute war allgemeiner Glückstag. Man wollte uns noch nicht in der Ewigkeit drüben. Das fingerdicke Stahlkabel des Nullleiters hatte Zenos Venom auf der Höhe der Kamera bis zur Panzerplatte durchsägt. Das feine «Kondensstreifchen» stammte vom aufgeschlitzten Scheibenenteisungstank. Eine Bombe war abgetrennt und das Effektensäcklein mitsamt der Uniform völlig zerstört worden. Noch am selben Abend besichtigten Zeno und ich die Leitung vor Ort. Die Höhe des Nullleiters betrug einmal 25 Meter. Die Schäden waren minimal: 5000 Franken am Flugzeug, dreitausend an der Leitung. Pilot und Übungsleiter wurden mit einem Verweis belegt. Der eine wegen Nichteinhaltung der Minimalflughöhe, der andere, weil er keine Rekognoszierung am Boden angeordnet hatte.
Bereits zeichnete der kalte Atem des Winters das Land und damit ging der Flugdienst merklich zurück. Wir beharkten zwar immer noch die nackte, aufgeschobene Wildhorndecke der Axalp. Dazu reisten wir mit allerhand Lufttransportmitteln zwischen Dübendorf und Meiringen hin und her.

Schiessübungen Axalp

Terrestrischer Transport- und Übernachtungsspesen waren zu teuer, der Kredit dafür aufgebraucht. Ein Flugzeug «kostete» im Vergleich zu Auto oder Bahn: «nichts». Ich traf gut auf dem höllischen Axalp Parcours und genoss die Fliegerei im Gebirge, dessen Kreten wir – um möglichst zügig wieder in Deckung zu gehen – mit zwanzig Metern, meist auf dem Rücken traversierten. Obwohl total fit und voll im Rhythmus, ging ich nie bis ans absolute Limit, liess stets das letzte bisschen «Speck» dem Fels.
Man hatte die Hochspannungsleitung bei Zuckenriet bereits wieder repariert und die Wanne des «Hudelmoos» – diesem einzigartigen Naturschutzgebiet – dämmerte dem Winterschlaf entgegen. Einige Gips- oder Betonbomben waren in den Wald gefallen, hatten zwei Birken und eine Handvoll Tannen wie Streichhölzer geknickt. Dunkles Wasser lag in den Löchern, die um die Ziele geschlagen worden waren. Die Wunden werden schnell verheilen und sind mit grosser Wahrscheinlichkeit die letzten gewesen, die der Moorlandschaft zugefügt worden sind, nachdem der Mensch die in Millenien von Jahren auf einmal fast sieben Meter gewachsene Torfschicht in den vergangenen dreihundert Jahren fast vollständig abgetragen hatte.
Es kam die flauere Zeit, der Alltag unterforderter Kampfschweine, die das Leben umarmten, im Strati den Korb hochdrehten und betonschwere Palmkübel hereinschleppten, um etwas im Grünen sitzen zu können. Wir fuhren ins städtische Hallenbad, ins Kino und in der Soldatenstube briet uns die Cilly zum Frühstück Speck mit Spiegelei. Auch am Klaustag war süsses Nichtstun. Wir werkelten lustlos am Schreibtisch und hockten bei ausgedehnten Kaffees. Inzwischen waren wir zu viert in unserem vergitterten Büro: Sébastien «Seb» Corall, Robert «Bob» Brigger, Roger «Rocky» Gänsli der Newcomer und ich. Roger war ein sportlich aussehender, cooler Beppi. Er passte auf Anhieb in unsere Gruppe, bestehend aus einem französisch sprechenden Berner, einem Zürcher, dem Basler und mir, dem Thurgauer. Wir bildeten ein enges, ganz speziell der Treue verpflichtetes Team. «Veni, vidi, vici» war unser Slogan. Cäsars Worte, dem Marlboro Päckchen abgekupfert. Wir beabsichtigten auch ein äusserliches Symbol zu kreieren, das nebst dem 17er Falken auf dem Fliegerhelm getragen werden sollte.
Es war zu jener Zeit, als Albanien mit den UdSSR brach, Chruschtschow tobte und Stalin aus dem Mausoleum entfernt wurde. Fast alle Luftverkehrsgesellschaften waren in finanziellen Schwierigkeiten. Es herrschte eine «unsinnige» Konkurrenz und die neuen Jets waren nur zur Hälfte ausgelastet. Im Fliegerärztlichen Institut empfahl man mir, mehr Sport zu treiben und stellte bereits einen markanten Gehörabfall in den hohen Frequenzen fest.
Zum Glück wurden wir zwischen Weihnachten und Neujahr für vier Tage nach Bern entsandt. Oberst Wetter, als Buchautor bekannt, empfing uns, genügsam Pfeife rauchend. Unsere Aufgabe erforderte nur wenig IQ: Mobilmachungszettel in Tausende von Dienstbüchlein kleben und dazu noch die Adressen aufdatieren. Wir waren zu Viert. So monoton die Tage, so süffig die Abende, an denen wir Beizen, Kinos und Nightclubs der Bundesstadt abklopften. Politisches Niemandsland, zumindest in diesen Tagen, so zu sagen. Im Schoss meiner Familie glitt ich auf dem ‘Hügeli’ wieder einmal brav ins neue Jahr, primär vor dem Fernsehgerät. In der Nacht fiel Schnee, viel Schnee, über vierzig Zentimeter segneten die Erde, die grösste Menge seit langem. Es war wieder ein gutes Jahr gewesen. Nur ein Militärpilot hatte sein Leben in einem Vampire verloren. Immer noch einer zu viel.

Erst am 9. Januar erlaubte das Wetter die Wiederaufnahme des Flugbetriebes. Und wie turbulent. Ein junger UeG-Pilot landete seinen Venom zu kurz, wodurch ihm am Beginn des Hartbelags ein Fahrwerk abgerissen wurde und er in einer Schneewolke ausrutschte. Der Pilot blieb unverletzt. Drei Flugzeuge mussten wegen dieses Unfalls in Kloten landen und es war wie verhext: Zweien platzte dort ein Reifen.
Wir vier Bürogenossen hatten über die Festtage unsere Fliegerhelme frech mit einem Schachbrettmuster überspritzt. Bob grau, Rocky blau, Seb beige und ich, als Ideenlieferant rot. Wir waren damit auch im Cockpit visuell sofort und unverkennbar auszumachen. Nur die Testpiloten in Emmen trugen bunte Helme, die restliche Flugwaffe weiss. Tage und Wochen winterten dahin, bis Hannes wieder einmal eine neue Idee auftischte. Eine grosse Herausforderung waren die sogenannten taktischen Atomwaffen, die «kleinen Stinkbomben», wie wir sie sarkastisch nannten. Unter vielen anderen, bargen sie die Gefahr einer starken Blendung in sich. Pilotenaugen könnten durch die Helligkeit der Explosion für Minuten ausser Gefecht gesetzt werden. Ein Sehorgan präventiv abdecken, ist die preisgünstige, sofort realisierbare Gegenmassnahme, vertrat Hannes mit dem Brustton der Überzeugung. Einäugig fliegen? Nun, einen Versuch ist es sicher wert, fanden wir und kauften uns schwarze Augenklappen. Während der Übung «Champignon» umflogen wir wie Piraten imaginäre, auf den Karten markierte Atompilze, um dann in Bretonnières bei Orbe im Wadtland anzugreifen. Trotz drei einäugigen Überflügen fanden wir die Ziele nicht, gaben auf und mussten den langen Heimweg nach Dübendorf unterbrechen, um in Emmen nachzutanken…

Text: Werner Alex Walser  Fotos: Werner Alex Walser und Archiv Stiftung MHMLW

Anmerkung zum Autor: Werner Alex Walser absolvierte nach einer Ausbildung zum Postbeamten im Jahre 1960 die Militärfliegerschule.  Danach war er fünf Jahre als Berufsmilitärpilot im Ueberwachungsgeschwader UeG tätig. Anschliessend wechselte er zur SWISSAIR, wo er als MD-11-Captain 1996 pensioniert wurde. Er veröffentlichte zwei autobiografische Bücher über seine Pilotenkarriere, «Eden und Kerosin», sowie «Feldgrau und Swissairblau». Nach mehreren Romanen ohne fliegerische Inhalte folgte das Buch «Pilotenseele», wo er nochmals zu seinen militärfliegerischen Wurzeln zurückkehrte. Sein bisher letztes Werk trägt den Titel «Horizontlos».


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