– 12.10.2021 –

(Die Bezeichnungen Flugdrachen, Drachen oder Delta werden nachfolgend synonym verwendet, engl.: Hangglider)

Vorgeschichte

Mit einfachen Mitteln den Boden verlassen und fliegen, sich vogelgleich in die Lüfte schwingen. Dies war vermutlich seit Beginn menschlichen Lebens auf dieser Erde immer ein Traum unserer, durch die Schwerkraft an den Boden geketteten, Gattung Zweibeiner gewesen. Genau datieren können wir erste Flugversuche nicht, es ist aber davon auszugehen, dass sie wohl früher stattgefunden haben, als man gemeinhin annimmt.

Auch in der griechischen Sagenwelt wurde ja bereits kräftig geflogen, sogar in die Nähe der Sonne…gemeint sind natürlich Dädalus und sein Sohn Ikarus, letzterer leider aufgrund seines jugendlichen Übermutes ohne happy landing…

Ohne mich in weitere mythologische oder analytisch-historische Betrachtungen versteigen zu wollen, kann aber sicher gesagt werden, dass die ersten richtigen Flüge im Sinne des Zurücklegens einer – wenn auch noch geringen – Gleitstrecke mit Bodenabstand, «Hängegleiter»-Flüge gewesen sein müssen. Diese konnten nicht auf ebener Strecke stattfinden, da – wie zwar immer wieder vergeblich versucht wurde – menschliche Muskelkraft nicht ausreicht, um sich vom Erdboden lösen zu können. (Gewisse Saurierarten scheinen diesbezüglich privilegierter gewesen zu sein, was aber offensichtlich keinen Überlebensvorteil bedeutete). Also nutzte man die Höhendifferenz eines Hügels, oder einer anderen Erhebung, um von dort mit Hilfe von geeigneten Tragflächen nach einem kräftigen Anlauf, idealerweise gegen den Wind, abheben zu können. Auch Türme, hohe Mauern oder ähnliches mussten als «Startplätze» herhalten. Viele dieser Versuche endeten fatal und müssen sicher eher als mehr oder weniger kontrollierte Abstürze bezeichnet werden.

Der Universalgelehrte Leonardo da Vinci beschäftigte sich schon im 15./16. Jahrhundert intensiv mit dem Fliegen, unzählige Skizzen und Zeichnungen sind Zeugen dieser Aktivitäten. Ob je einer seiner Gleiter zum Fliegen kam, ist nicht bekannt.

Unter grossen Opfern zahlloser ungenannter Pioniere entwickelte sich im Laufe der Zeit in verschiedensten Ländern jegliche Form des Fliegens, wie es uns heute vertraut – und selbstverständlich, ja schon fast zu selbstverständlich geworden ist. Dabei handelt es sich um ein Privileg, das lediglich rund 120 Jahre alt ist!

Archiv Otto Lilienthal Museum

Archiv Otto Lilienthal Museum

1891 führte der Maschineningenieur Otto Lilienthal, der zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gustav (Baumeister, Sozialreformer und Flugzeugkonstrukteur), nach intensiven Studien über den Vogelflug an Störchen, seit Jahren verschiedenste Gleitertypen aus Holz und Stoff entwickelt hatte, in Deutschland von einem Hügel in der Nähe von Potsdam seinen ersten Flug durch und wurde damit zum offiziell ersten Hängegleiterpiloten der Welt.

In seiner Heimatstadt Anklam in der ehemaligen DDR, steht das sehenswerte Lilienthal-Museum, Otto-Lilienthal-Museum Anklam das in seiner heutigen Form seit 1989 existiert und zwischenzeitlich noch erweitert wurde. Nebenbei: Eine Plakette beim Eingang erinnert an den Besuch der ehemaligen Kosmonauten und Flieger Waleri Bykovski und Sigmund Jähn (Russisch/deutsche Sojus 31-Raumfahrt-Mission).

Ausgestellt sind unter anderem zahlreiche verschiedene Gleitertypen, und es kann an einer Art Simulator nachvollzogen werden, auf welche Weise Lilienthal seine Fluggeräte gesteuert hatte. Die Arme durch zwei gepolsterte Lederschlaufen gesteckt, hing er aufrecht zwischen den beiden Flügelhälften und durch Gewichtsverlagerung der unten heraushängenden Beine übertrug er Steuerimpulse auf die stoffbespannten verformbaren Flügelflächen. Eine eigentliche Pilotenaufhängung existierte nicht, somit musste sich der Flieger während des gesamten Fluges mit der Kraft der oberen Extremitäten am Gleiter festhalten. Die Hände umfassten Holzstreben, die in die aus Drähten bestehende Unterverspannung integriert waren. Dabei lag sein Körperschwerpunkt relativ hoch und dessen Verschiebbarkeit war beschränkt, was sich auf die Steuerbarkeit des Gerätes limitierend auswirkte.

Am 9. August 1896 stürzte Lilienthal in der Nähe von Potsdam aus 15m Höhe ab, da er eine thermische Ablösung, die ihn aus der Flugbahn warf, nicht aussteuern konnte. Tags darauf verstarb er in Berlin an den Unfallfolgen.

Archiv Otto Lilienthal Museum

Noch vor Ende des 19. Jahrhunderts liess sich der Amerikaner John Montgomery bereits mit einem Heissluftballon auf 1200 Meter über Grund hochschleppen, klinkte seinen Gleiter aus und erreichte nach einem Flug von unglaublichen 20 Minuten sicher wieder den Erdboden. 1905 kam er bei einem gleichartigen Versuch ums Leben, als der Gleiter beim Ausklinken beschädigt wurde, nicht mehr flugfähig war und abstürzte.

In den 20er- und 30er-Jahren wurden vor allem in Deutschland und den USA, aber auch in anderen Ländern zahlreiche Hängegleiter entwickelt, die mit ihren starren Flügelflächen eigentlichen Segelflugzeugen entsprachen, zunächst meist immer noch gewichtskraftgesteuert. In der Schweiz machten sich zu dieser Zeit vor allem Willy Fahrner und Hermann Aecherli als Hängegleiter-Konstrukteure einen Namen. Bald schon hielt aber die aerodynamische Steuerung Einzug und es entstanden beispielsweise die Schulgleiter SG 38 und «Zögling».

Das Rogallo – Prinzip

Der amerikanische Ingenieur für Luftfahrtmechanik Francis Melvin Rogallo, der 1935 sein Studium in Stanford abgeschlossen hatte und danach im «Langley Research Center» tätig war, entwickelte 1948 zusammen mit seiner Ehefrau Gertrude flexible, aus Stoff und Schnüren bestehende, lenkbare Modell-Flugdrachen. Zunächst handelte es sich um Deltaflügel mit zylindrischer, später mit kegelförmiger Wölbung, die er auch patentieren liess.

Genial am kegelförmigen Rogallo-Prinzip war, dass ein flugfähiger Flügel durch lediglich drei starre Holme und dazwischen eine vom Wind gewölbte flexible Stoffläche gebildet wurde. Der «Flex Wing» war geboren. Im Tuch entstanden echte Profile, die über die Spannweite gegen die Flügelenden sogar eine stabilisierende Schränkung aufwiesen, indem der Anstellwinkel gegen aussen hin abnahm.

In den 60er Jahren interessierte sich die NASA (Raketenpionier Wernher von Braun) für Rogallos Erfindung zwecks Rücktransport der Gemini-Raumkapseln zur Erde, nach deren Wiedereintritt in die Atmosphäre.

Francis Melvin Rogallo

Rogallo wurde bei der NASA eine eigene Abteilung zur Weiterentwicklung seiner Tragfläche eingerichtet, auch das Militär war sehr an seiner Erfindung interessiert. Es zeigte sich, dass der Rogallo-Flügel imstande war, Lasten von über 3 Tonnen zu tragen. Damit hätte er sich auch für die deutlich grössere Apollo-Kapsel des Mondlandeprogramms geeignet. Aus politischen Gründen, welcher Art auch immer, entschied man sich aber schliesslich für konventionelle Rundkappenschirme, anstelle des vielversprechenden Rogallo-Flügels. Daraufhin zog sich Francis Rogallo enttäuscht in den vorzeitigen Ruhestand zurück.

Das Rogallo-Prinzip wurde aber im Flugsportbereich schnell erkannt, als ideale Möglichkeit, um mit  minimalem Aufwand Gleitflüge durchführen zu können. Auch Francis Rogallo selbst wurde in der Folge zum begeisterten Delta-Piloten. Im Gegensatz zum Ur-Rogallo mit lediglich 2 Flügelrohren und einem Zentralrohr, wurde neu ein Querrohr, das durch den Schwerpunkt verlief, eingefügt, woraus sich eine starre Flügelgrundstruktur ergab, über die dann das Segel zu liegen kam. Dieses wies nach wie vor eine kegelförmige Wölbung auf.

Rogallo – Prinzip

Gebrüder Bob und Chris Wills

Bambusrohre mit Cellophansegel

Erste Hängegleiter nach dem Rogallo-Prinzip enstanden anfangs der 60er Jahre in den USA, zunächst aus Bambusrohren und mit einem Cellophansegel bespannt…Hier ein Beispiel der Gebrüder Bob und Chris Wills (spätere Delta-Hersteller) in Kalifornien. Es war die Zeit von Flower Power, und diese neue Art der Fliegerei war idealer Ausdruck der neuen grenzenlosen Freiheit: Kiffen, Musik und Fliegen…und noch ein paar Dinge mehr…Ende der 60er Jahre hielten Seriosität und Professionalität Einzug. Es fanden moderne, hochfeste Werkstoffe Verwendung, wie Rohre aus Aluminiumlegierungen aus dem Flugzeugbau (Avional, Perunal), als Segelmaterial wurde das aus Polyester-Endlosfäden bestehende, von der Firma DuPont entwickelte Dacron gewählt. (Das sehr resistente Material kommt u.a. auch seit langem in der Medizin als Nahtmaterial und in Form von Blutgefässprothesen zum Einsatz). Zur Verspannung wurden nun Stahlseile in Flugzeugqualität verwendet, was auch für Beschläge, Schrauben, Muttern etc. galt. Ausserdem erfand der Australier John Dickenson den Steuerbügel, was die geniale und entscheidende Verbesserung der Lenkbarkeit eines Flugdrachens oder Deltas bedeutete. Dickensons australische Flieger-Freunde Bill Moyes und Bill Bennett erkannten und nutzten die Vorteile des Steuerbügels und begannen mit der Produktion eigener Deltas nach dem neuen Prinzip. Der Steuerbügel, bestehend aus zwei Seitenrohren und einem Basisrohr, oft nur als «Basis» bezeichnet, erhielt übrigens im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung «Trapez». Ergänzt wurde die Delta-Konstruktion durch einen Turm, sowie eine Ober- und Unterverspannung aus Stahldrähten.

Erste Fluggebiete waren Küstenregionen wie Torrey Pines in Kalifornien, später das Mekka des Drachenflugs in Uebersee, unweit von San Diego, wo an Klippen gestartet wurde und lange Flüge im konstanten dynamischen Hangaufwind möglich wurden.

Auch in der früheren Sowjetunion publizierte man Baupläne, den Drachen bezeichnete man dort als «Deltaplan». Vorreiter der Deltaszene, die 1976 legalisiert (!) wurde, war der Physikprofessor Michail Gochberg. Auch in Polen, in der CSSR und in der DDR entstanden in der Folge Hängegleitergruppen. In letztgenanntem Land allerdings staatlich streng kontrolliert, zwecks Verhinderung der «Republikflucht» per Flugdrachen…

“Delta-Plan”

Mit etwas Verzögerung wurde das Deltafliegen auch in West-Europa populär. Am 11. April 1973 flog der indianischstämmige Amerikaner Mike Harker vom höchsten Berg Deutschlands, der Zugspitze (2962 m.ü.M.) mit einem Bennett-«Standard»-Delta über die Grenze nach Oesterreich. Die Fluggzeit betrug dabei knapp 12 Minuten. Er löste damit eine Welle der Begeisterung aus, die sich über die ganze Welt verbreitete. 1 Jahr später beflog er auch den 3776 Meter hohen Fujijama in Japan, was bei der Verbreitung des Sports im asiatischen Raum zum entscheidenden Schrittmacher wurde.

Mike Harker

Überall bildete er nach seinen Flügen lokale Piloten aus und eröffnete 1974 in der Schweiz in Scuol eine eigene Flugschule. Die dazu notwendigen Gleiter gab Harker bei den Flug- und Fahrzeugwerken Altenrhein in Auftrag, dem seinerzeitigen Hersteller des Erdkampfflugzeuges P–16. Mit dem Bau einer grösseren Anzahl von Rogallo-Deltas, den «Swissdeltas» wurden die beiden Flugzeugmechaniker-Lehrlinge Walter Schönauer und Peter Haltiner betraut, die zusammen mit ihren Lehrlingskollegen die Fluggeräte in mehreren 20er-Serien produzierten und nebenher gleich noch je ein Exemplar für sich selber bauten. Harker wurden dabei die Geräte förmlich aus der Hand gerissen, sie verkauften sich wie warme Semmeln!

Swissdeltas


Flugzeugmechaniker-Lehrling Walter Schönauer

Die Schweizer Drachenflugpioniere Walter Schönauer und Peter Haltiner

Mit diesen Geräten flogen die beiden Freunde als erste vom 2502m hohen Säntis zur Winterzeit und gehörten damit zu den ersten Schweizer Drachenflug-Pionieren. Dies stellte hierzulande eine Sensation dar, ein entsprechend euphorischer Bericht des St. Galler Tagblattes widerspiegelt die damalige Begeisterung für die neue Sportart.

St. Galler Tagblatt

Geflogen wurde zu allen Jahreszeiten, im Winter per Fuss- oder Skistart. Der Pilot war über ein einfaches Gurtzeug mittels Bergsteigerkarabinerhaken in eine im Schwerpunkt befestigte Polyamidseil- oder Stahlseilaufhängung, in die er sich einklinkte, mit dem Delta verbunden. Gegenüber den Lilienthal-Gleitern lag der Schwerpunkt tief unterhalb der Flügelfläche, was der Flugstabilität zugutekam.

Zunächst wurde aufrecht und hängend geflogen. Da dies aber bei längeren Flügen wegen Druckeinwirkung der Gurte auf die zwischen den Beinen lokalisierten Organe der meist männlichen Flieger ungemütlich wurde und ausserdem späteren Vaterfreuden hätte im Wege stehen können, versuchte man mit einem Sitzbrett Abhilfe zu schaffen. Die zwei Säntispioniere lösten das Problem elegant mittels einer hölzernen Kindersitzschaukel, beziehungsweise einer gezielt verstärkten und gepolsterten Schwingerhose.

Walter Schönauer

Peter Haltiner

Walter Schönauer und Peter Haltiner nach erfolgreicher Landung

Fliegen wie die Vögel wollten die Deltapiloten. Da die gefiederten Freunde beim Fliegen aber auch nicht hängen oder sitzen, bedeutete dies zwangsläufig die liegende Flugposition. Fliegen wie ein Raubvogel, den Blick nach unten gerichtet und dank des dadurch tiefer liegenden Schwerpunktes deutliche Vorteile bei der Steuerbarkeit – die Trapezbasis wie einen Fahrradlenker in den Händen haltend. Dazu entstanden spezielle Liegegurtzeuge, von den einfachen «Kniehängern» über die «Spaghettimatte» bis hin zu verschiedenen eigentlichen «Liegematten», in die nach dem Start eingestiegen werden musste. Die Steuerung um die Längsachse erfolgte durch die parallele Verschiebung des gesamten Körpers (mit Hilfe der an der Trapezbasis liegenden Hände) nach rechts für eine Rechtskurve, nach links für eine Linkskurve. Ziehen an der Trapezbasis beschleunigte, Stossen verlangsamte die Geschwindigkeit des Gleiters. Das Kurvenfliegen war ein dynamischer Vorgang und erforderte Gefühl. Vor dem Einleiten wurde Fahrt aufgenommen, danach erfolgte die Parallelverschiebung des Körpers auf die Kurvenseite, dann musste dosiert leicht gestossen werden, ohne einen stall zu provozieren aber auch um keinen Höhenverlust in der Kurve zu erleiden. Schon während der Kurve wanderte der Körper wieder zurück in die Mittelstellung. Dies als vereinfachte Darstellung der Kurvenflugtechnik.

Nach dem Start

Zu Start und Landung:

Gestartet wurde idealerweise an einem gleichmässig abfallenden, eher steilen Hang mit einigermassen ebenem Untergrund und ohne Hindernisse in Abflugrichtung. Vor dem Start erfolgte ein vorgeschriebener SHV ( s. unten)-Check, allenfalls mit Liegeprobe. Dabei war die Kontrolle des Eingehängtseins lebenswichtig! Idealerweise sollte der Wind konstant und möglichst exakt von vorne wehen, leichter Seitenwind konnte mit Drehen der Nase und leichtem Hängenlassen der einen Flügelhälfte kompensiert werden. Der Anstellwinkel der Flügelnase sollte weder zu gross noch zu klein sein, um einen stall nach dem Start zu vermeiden und aber auch ein Unterschneiden mit schmerzhaftem Sturz auf die Nase zu verhindern. Mit den Seitenrohren, die von hinten umfasst wurden, ruhte der Gleiter auf den Oberarmen. Auf diese Weise konnte der Anstellwinkel kontrolliert und wenn nötig korrigiert werden. Vor dem Startanlauf wurde der Gleiter so weit hochgehoben, dass die Aufhängung gespannt war. Dann nochmalige Kontrolle des Windes (Wollfaden-Spion an der vorderen Unterverspannung) und des Flugraums. Danach langsames Anlaufen und kontinuierliches Beschleunigen und Weiterlaufen bis die Füsse ins Leere traten. Dann von den Seitenrohren an die Basis umgreifen und Einnehmen der Liegeposition.

Gelandet wurde, wie in der Fliegerei üblich mit einer Landevolte, in der Regel einer Linksvolte. Auf der gesamten Volte war eine leicht erhöhte Fluggeschwindigkeit einzuhalten (Geschwindigkeit ist das halbe Leben!) Nach Abkreisen allfälliger überschüssiger Höhe im Warteraum querab zum Landeplatz Einleiten des Gegenanfluges, dann Übergang in den Queranflug und schliesslich Eindrehen in den Endanflug gegen den Wind. Im fortgeschrittenen Endanflug – ohne dabei zu langsam zu werden – Aufrichten des Körpers und Umgreifen von der Basis an die Seitenrohre, Hände auf Schulterhöhe. Ausgleitenlassen auf ca. 1m über Grund. Sobald sich das Trapez «weich» anfühlte (beginnender stall) energisches ruckartiges Stossen des Trapezes nach vorne oben. Dann stand man im Idealfall weich auf den Füssen, oder hatte noch 2-3 Schritte zu laufen. Falls man auf den Boden crashte, verbogen sich die relativ weichen Trapezseitenrohre sehr rasch zu sog. «Hosenträgern» und mussten vor dem nächsten Flug zwingend ausgetauscht werden. Soweit dieser kleine, unvollständige Exkurs in die Flugtechnik.

Das anfänglich «freie Fliegen» wurde sehr rasch reglementiert. Es enstand der «Schweizerische Hängegleiterverband SHV», dem vom damaligen Eidgenössischen Luftamt (heute BAZL) die Kompetenzen zur Ausbildung der Hängegleiterpiloten und zum Erlass von Prüfungsrichtlinien übertragen wurden. Die Ausbildung umfasste dieselben Themengebiete, wie sie die Segelflieger kannten. Hinzu kamen die Delta-spezifischen Kenntnisse in Bezug auf Material, Flugtechnik etc. Prüfungen wurden durch BAZL-Experten abgenommen, am Schluss wurde ein vom BAZL anerkanntes Flugbrevet ausgestellt.

Virusartig verbreitete sich die Deltaszene über die ganze Schweiz, in der Romandie war ein gewisser Bertrand Piccard, späterer Weltumrunder mit Heissluftballon und Solarflugzeug ebenfalls von Anfang an mit dabei. Seine Spezialität wurden waghalsige Akroflüge nach Start von einem Heissluftballon. Dazu verwendete er einen amerikanischen «Manta Fledge», den ersten Starrflügler, der teilweise mittels aerodynamischen Rudern gesteuert wurde. Walter Schönauer und Peter Haltiner, Deltabauer und Flieger der allerersten Stunde stiegen kometenhaft in den Hängegleiter-Olymp auf, sowohl in der Schweiz als auch international und errangen unzählige Wettkampferfolge, Walter wurde Vize-Europameister und war über Jahre Trainer der Schweizer Delta-Nationalmannschaft. Auch begründeten sie ein weltweit einzigartiges Delta-Ballett mit Synchron-Akro-Vorführungen nach Start vom Heissluftballon. Ihre spektakulären Simultanflüge wurden weit über die Landesgrenzen hinaus legendär.

Delta-Ballett mit Synchron-Akro-Vorführungen nach Start vom Heissluftballon

Von den etablierten «richtigen» Fliegern wurden die Deltapiloten, diese wilden Gesellen, anfänglich misstrauisch beäugt, auf keinen Fall  ernst genommen und mussten oft Spott und Häme einstecken. Von «Sackgumpern», «Putzlumpenfliegern», «Röhrlibrüdern» und ähnlichem war die Rede. «Kei blassi Ahnig vom Flüüge!» hätten sie. Natürlich, woher auch…

Verantwortungslose und enthirnte «Selbstmordkandidaten» waren sie eh alle. Dabei weiss der Schreibende aus eigener beruflicher Erfahrung, dass es geeignetere, wesentlich weniger aufwendige und vor allem «todsichere» Methoden gab und gibt, um unseren Planeten zu verlassen.

Wie auch immer, die Unfallhäufigkeit war zu den Anfangszeiten enorm hoch und bewog mich selbst, mit einer Flugausbildung noch etwas zuzuwarten. Ich kaufte mir am Kiosk regelmässig das monatlich erscheinende «Drachenflieger-Magazin», «Dra-Ma» genannt, wo nicht nur über «Dramen», lies Abstürze berichtet wurde. Dies um mich über die Fortschritte auf dem Laufenden zu halten, vor allem was die Sicherheit anbelangte. Die Gleiter entwickelten sich rasant, weg von der dreieckigen Rogallo-Urform hin zu eigentlichen Nurflüglern, die Gleitleistungen (Gleitzahl  E = Quotient aus zurückgelegter Strecke und Starthöhe) verbesserten sich kontinuierlich. Die Flügelprofile wurden effizienter  durch den Einsatz vorgeformter Alu-Segellatten. Rettungssysteme in Form von speziellen Fallschirmen, die bei einem Absturz die Sinkgeschwindigkeit entscheidend bremsten, wurden verfügbar. Eine unheimliche, weil in der  Entstehung unklare Unfallursache aber, die regelmässig immer wieder einmal auftrat, war der sog. «Flattersturz». Es handelte sich dabei um ein «stabiles Flattern» des Segels, vergleichbar dem «Killen» des Gross-Segels eines Segelschiffes, wenn es exakt im Wind steht.

Beim Delta war dieser Flugzustand nicht zu korrigieren und führte unweigerlich zum Absturz. Ein frühes tödliches Opfer eines solchen Unfalls war der Schweizer Skirennfahrer und Olympiasieger Roger Staub 1974 in Verbier.

Dem genialen deutschen Ingenieur (und selber Drachenflieger) Professor Michael Schönherr verdanken wir seiner unglaublichen Beharrlichkeit wegen die Analyse und Lösung dieses existenziellen Problems der Hängegleiterfliegerei. Ein grossartiges Zitat von ihm lautete: «Wenn ein Ozeandampfer  unsicher ist, dann verbessert man den Dampfer und nicht die Rettungsboote». Mittels Modellsimulationen, Computeranalysen und durch spezielle Messwagenfahrten des Deutschen Hängegleiterverbandes DHV gelang es, den Flattersturz vollständig aufzuklären und zu eliminieren. Es wurden die sog. «swivel tips» an den Flügelaussenseiten eingeführt, kleine Röhrchen die als Schränkungsanschläge fungierten, ausserdem wurde die Segelhinterkante mit ihren Segellatten im mittleren Bereich durch sog. «luff lines» an die Turmspitze hochgehängt. Dies führte während des Fluges zu einem konstanten, aufrichtenden Moment. Das Doppelsegel mit Integration des Querrohres war Standard geworden und verbesserte die Aerodynamik entscheidend.

Die Leistungsfähigkeit der Deltas hatte mittlerweile ein unglaubliches Niveau erreicht. In der Thermik konnten sie locker mit den Segelfliegern mithalten, dank engerer Kurvenradien waren sie in der Lage, Thermikschläuche besser zentrieren zu können und somit die Zone des stärksten Steigens optimaler zu nutzen. Sie erreichten Höhen von fast 10’000 Metern, der Distanzweltrekord beträgt noch heute rund 760 Kilometer.

Eigene Erfahrungen mit der Delta-Fliegerei

Für mich war damit der Zeitpunkt gekommen, nun selber mit der Fliegerei loszulegen. An einem «Probetag» machte ich bei einer nahegelegenen Flugschule erste Bekanntschaft mit einem Delta. Es handelte sich dabei um einen klassischen knallgelben Rogallo mit der Bezeichnung «Bora 100», «es Hunderti» wurde das Ding im Insider-Jargon genannt. Ich lernte zunächst den an sich einfachen Aufbau. An der Flügelnase war ein roter Plastik-Kinderski angebracht, um zu verhindern, dass man beim ersten Nasen-Bodenkontakt im Dreck stecken blieb. Die schon leicht verbogenen Trapez-Seitenrohre erinnerten an Versuche meiner Vorgänger. An der Trapezbasis waren 2 grosse Räder montiert und durch Spanngummis vor dem Verrutschen gesichert. Unter Anleitung stieg ich ins einfache Hängegurtzeug und der Fluglehrer zurrte dieses fest. Die Gurte drückten. Wir, eine 5er Gruppe von «Probetäglern» trugen die Gleiter den Schulungshang hoch und lauschten den Erläuterungen des braungebrannten Fluglehrers «Brandi». Karabiner eingehängt, Delta hochgehoben, Anstellwinkel korrigiert, der Wollfaden an der vorderen Verspannung flatterte lustig geradewegs auf mich zu. «So jetzt, 2 schnälli Schritt und dänn voll seckle!» brüllte Brandi. Dies tat ich meiner Meinung nach und lag schon bald aber auf der Nase, schlug meinen helmbewehrten Kopf am Zentralrohr an und die Hosen waren grasgrün. Die nächsten Versuche verliefen ähnlich, aber beim vierten Mal spürte ich ein starkes Ziehen am Rücken und verlor während des Laufens den Bodenkontakt. Diesmal hatte der Anstellwinkel gestimmt und ich glitt mehrere Meter über dem Boden dahin. Leicht zog ich am Trapez um etwas Fahrt aufzunehmen. Die Wind-Geräusche des Segels und der Spanndrähte in den Ohren war ich der glücklichste Mensch der Welt, ich flog! Bis zuunterst an den Schulungshang ging die Reise, dann kam der Boden näher. Ich stiess das Trapez entschlossen nach vorne und… stand im Gras. Der Delta ruhte wieder mit seinem Gewicht auf meinen Armen. Das war es also gewesen, wahnsinnig! Von diesem Moment an liessen mich die Gedanken ans Fliegen nicht mehr los.

Im Drachenfliegermagazin war mir ein kleines Inserat folgenden Inhaltes aufgefallen: «Lerne Deltafliegen!» Walter Schönauer, SHV-Fluglehrer, Telefonnummer.

Na, diesen Namen kannte ich doch von meiner regelmässigen Lektüre, das musste dieser Super-Crack sein! Also ans Telefon und sofort einen Termin vereinbart.

Wir trafen uns an einem Herbstmorgen im Zürcher Oberland, zusammen mit einigen anderen Schülern auf einem Parkplatz. Die Chemie stimmte. Vor allem beeindruckt war ich von der grossen Ruhe, die der bescheidene junge Mann ausstrahlte. Für sein Alter wirkte er unglaublich abgeklärt und geerdet, rasch fasste ich Vertrauen. Der Tag wurde zum Erfolg, dank der präzisen, unaufgeregten Instruktionstechnik von Walter gelang mir nebst einigen Flops zum Abschluss am steilen Hang ein für meine Begriffe langer, sehr schöner Flug mit weicher Landung kurz vor einer Telefonleitung – viel länger hätte er nicht mehr ausfallen dürfen…

Grundschulung in Malbun – Liechtenstein

Flugprüfung Vaduz – Liechtenstein

Im nächsten Frühjahr setzte ich meine Ausbildung in Liechtenstein fort, wo Walter seine neue Flugschule eröffnet hatte. Ich genoss das Privileg, eine Woche lang der einzige Schüler zu sein und profitierte enorm. Mit den Murmeltieren in Malbun einsam die Natur geniessen blieb bei meinen Flugerlebnissen unvergesslich. Ebenso unvergesslich waren während der gesamten Schulungszeit die unglaublich inspirierenden Menschen, deren Bekanntschaft ich machen durfte, und die alle nur ein Ziel hatten, nämlich fliegen zu lernen, was uns alle zusammenschweisste. Vom Schlosser-Lehrling über den Bäcker, den Dorfpfarrer, die Journalistin, den Professor und Hochschuldozenten, den Musiker, den Militärpiloten, den Pöstler,…einfach unglaublich, es war schlicht grandios und gehört zu den aufregendsten Zeiten in meinem Leben. Walter war der wohl beste Fluglehrer, den man sich vorstellen konnte und hatte für jeden Schüler die richtigen Worte im entscheidenden Moment, bremste die allzu Forschen und ermunterte die Zurückhaltenden. Seine menschlichen Qualitäten waren und sind einmalig, weit über das Fliegen hinaus.

Fliegen in der Aletscharena im Wallis

Startplatz Fiescheralp

Rund 25 Jahre durfte ich die Zeit des Deltafliegens erleben (zwischenzeitlich dominierte längst die Gleitschirmfliegerei und hatte zahlenmässig ganz andere, auch anonymere Dimensionen angenommen), die Erinnerungen an die grossartige Zeit haben unauslöschliche Bilder und Spuren in meinem Gehirn hinterlassen.

Startplatz Gaflei – Liechtenstein

Epilog

Die Delta-Entwicklung machte weitere Fortschritte. Neue Materialien hielten Einzug, wie beispielsweise Mylar zur Verbesserung der Strömungsverhältnisse an der Eintrittskante oder Karbonrohre, die aufgrund ihrer Festigkeit den Wegfall der Oberverspannung ermöglichten und damit die Aerodynamik an der Flügeloberseite dank fehlender Verwirbelungen deutlich verbesserten. Andererseits wurden Starrflügler, wie Atos oder Archaeopteryx entwickelt, die schon beinahe oder vollständig Segelflugzeugen entsprachen, aber nicht mehr so einfach zusammengefaltet auf dem Autodach transportabel waren wie herkömmliche «Flex Wing»-Deltas und auch preislich in ganz andere Dimensionen vorstiessen.

Delta- und natürlich auch das heute sehr populär gewordene Gleitschirmfliegen eignen sich übrigens hervorragend zur Förderung des fliegerischen Nachwuchses! Der Schweizerische Hängegleiterverband SHV www.shv-fsvl.ch erteilt alle notwendigen weiteren Informationen.

Fliegen im Goms Richtung Furka – Ideale Thermikverhältnisse

Text: Theo Huber, Bilder:  Walter Schönauer, Theo Huber, Lilienthal-Museum, Stephan Nitsch,  cretanbeaches.com


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