– 26.11.2019 –

Es war keineswegs eine Zangengeburt, sondern vielmehr eine ultrakurze Schwangerschaft – von der Idee bis hin zu meinem Erscheinen in der Oeffentlichkeit. Und das kam so:

Der 1.Weltkrieg tobte schon seit über zwei Jahren, als mein Vaterland im April 1917 in das Kriegsgeschehen eingriff. Die bei uns bis dahin betriebenen Flugmotoren waren hauptsächlich französischer und britischer Bauart (zum Teil auch Lizenzbau), mit relativ geringer Leistung (<200PS), oder stammten aus unserem Motorfahrzeugbau. In Europa, vor allem in Deutschland, wurden bereits Flugzeugantriebe mit bis gegen 500 PS verwendet! Deshalb trat das „Aircraft Production Board“ des War Departments mit folgender Forderung an die Industrie heran:

Flugmotoren in verschiedenen Grössen (4-, 6-, 8-, 12- Zylinder) mit einem sehr kleinen Leistungsgewicht sind zu bauen. Möglichst viele gemeinsame Bauteile (Zylinder, Pleuel, Kolben usw.) sollen eine dezentralisierte Massenproduktion erlauben.

Unsere beiden besten Ingenieure aus der Automobilindustrie wurden auf den 29.5.1917 nach Washington beordert: Major Elbert J. Hall von Hall-Scott Motor Co aus Berkeley (CAL) und Major Jesse G. Vincent von Packard Motor Co aus Detroit. Fünf Tage und Nächte arbeiteten die beiden in Räumlichkeiten des Hotels Willard fast pausenlos am Stück, dann stand das Konzept fest. Es zeigte sich bald, dass   nur der Stärkste unserer Familie, eben meine Wenigkeit mit 400 PS, gefragt sein würde. Noch während der Konstruktionsphase wurde aus zeitlichen Gründen möglichst schnell ein V8–Prototyp gebaut. Der Testlauf sollte bis am 3.Juli erfolgt sein.

Am 4.7.1917 wurde mein Vorläufer, der V8-Prototyp, in Washington von der Regierung akzeptiert und der Oeffentlichkeit vorgestellt. Zu Ehren des Independence Day wurde unsere ganze Familie danach auf den Namen LIBERTY getauft.

Die zusammengerufenen Konstrukteure und Zeichner, rund 200 an der Zahl, fertigten bis zum 1.Juli die Werkstattzeichnungen an. Am 25.8.1917 fand der erste Langzeit-Testlauf über 5 Stunden meines ältesten Bruders (12-Zyl.) statt und sogleich auch die Abnahme durch die Regierung.

Ab diesem Zeitpunkt waren von der West– bis zur Ostküste 12 Betriebe mit Produktion und Montage von uns 12-Zylindern beschäftigt. Die Montage erfolgte hauptsächlich bei Packard aber auch bei Lincoln und Ford (Hall-Scott wurde als für die Produktion zu kleiner Betrieb befunden). Die Einzelteile lieferten Aeromarine, Buick, Cadillac, Hall-Scott, Marmon, Trego, Wright-Martin, usw. Die als Koordinatorin der landesweiten Produktion errichtete Firma nannte sich Liberty Engineering Corporation. Bis Herbst 1917 sollen bereits 1’357 Exemplare ausgeliefert worden sein und bis zum Waffenstillstand im Nov. 1918 13’574 Stück mit einer Rate von bis zu 150/Tag und bis im Januar 1919 20’478 Stück. Total bis zum Produktionsende (~2.Weltkrieg) sollen es nach anderen Quellen (Gilles) ~64’100 Stück gewesen sein.

Dies war vor hundert Jahren eine gewaltige, ja geradezu grandiose industrielle Leistung in der noch jungen Luftfahrtgeschichte.

Meine enge V-Stellung der Zylinder von 45° bedeutete kleineren Luftwiderstand und schmalere Silhouette von vorne. Meine zwölf Leichtmetallkolben leisteten einen wesentlichen Beitrag zum kleinen Leistungsgewicht, wie auch das zweiteilige Kurbelgehäuse aus Aluminium.

Meine beiden obenliegenden Nockenwellen (OHC) und die Ventilsteuerungen sollen praktisch unverändert von einem deutschen Motor – Mercedes III oder BMW III – übernommen worden sein! Die Ingenieure verpassten mir eine Fremd-Zündung von Delco mittels Dynamo und als Puffer eine Batterie. Die beiden Zenith-Vergaser waren zuverlässige Lieferanten meiner flüssigen Nahrung. Rizinusöl sorgte für die Leichtgängigkeit der aufeinander gleitenden Teile. Bei sehr grosser Anstrengung wurden meine überhitzungsgefährdeten Muskeln durch einen Wasserkreislauf in einem akzeptablen Temperaturbereich gehalten.

Viele Flugzeugtypen (1-, 2-, 3-motorige) konnten sich durch meine damals enorme Kraft in die Luft erheben (siehe Liste unten). Meine zahlreichen Brüder sorgten auch für den Antrieb anderer Geräte zu Wasser und zu Land (Panzer).

Lizenzprodukte und/oder Kopien wurden in Grossbritannien durch Nuffield, in der UdSSR durch Mikulin (M-5) gebaut.

In die Schweiz gelangte ich als treibende Kraft des „Solitärs“ De Havilland DH-9 „Airco“, ein 2½ -stieliger Doppeldecker, der von 1920-1929 als Nr.706 zur Beobachterschulung eingesetzt wurde. Ab 1922 kutschierte ich in dieser Kiste auch Leute von der L+T (Landestopographie) mit der damals brandneuen Reihenbildkamera von Heyde und Zeiss durch den hiesigen Luftraum.

NB: W.C. Durant CEO von Cadillac (GM) war 1917 als Pazifist nicht geneigt, Kriegsmaterial zu bauen. Sein Chefingenieur Henry Leland verliess die Firma und gründete die Lincoln Motor Company und erhielt bald einen 10 M$-Auftrag der Regierung zum Bau meiner Kumpanen. Später wechselte Durant seine Meinung, und so bauten Cadillac und Buick schliesslich doch noch an Liberty-Motoren.

Schlusswort: Für diesen Aufsatz habe ich meine Erinnerungen sorgfältig durchgekämmt und hoffe, dass mir mein Gedächtnis mit irgendwelchen Ungenauigkeiten oder Verwechslungen keinen Streich gespielt hat.

Es würde mich, meine 70 „Mitbewohner“ und sicher auch den Museumsführer freuen, wenn Sie, liebe lesende Person, mich gelegentlich in der seit 2015 neu gestalteten Motorensammlung einmal besuchen würden. See You!

Text: H.J. Kuhn

Meine technischen Daten finden sie in der untenstehenden Box.

Quellen: Urech Seite 90, HGi2 Seiten 198-208 und HGi3 Seiten 229/230 , Gilles, Janes 1919, Archiv BAMF/FFM, Wikipedia

Technische Daten:    

12-Zylinder V 45°,

D=127mm, H=178mm, V=27.06dm3,

Verdichtung                            ∆p 5,46,

L=1,7m, B=0,66m, H=1,15m , G=375kg,

Startleistung                            308kW / 408PS bei 1700-1,

Nennleistung                           280kW / 381PS bei 1550-1,

spez. Leistung                          14,07 PS/dm3,

spez. Leistungsgewicht          0,98kg/PS,

spez. Verbrauch                       225g/PS/h (Benzin), 15g/PS/h (Oel)

Wasserkühlung                        20 l

In Flugzeugen verwendet von:

Dayton-Wright / Airco DH-4C (De Havilland), De Havilland DH-9 „Airco“, Breguet , Caproni, Curtiss, Douglas, Felixstowe, Fokker, Handley Page, Witteman-Lewis, und weitere: zB Luftschiff RN-1 (Zodiac)